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Die Pilgergraefin

Die Pilgergraefin

Titel: Die Pilgergraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Mittler
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war, der sich ehemals außerhalb der Stadtmauern befunden hatte, die Rom zur Zeit von Kaiser Marcus Aurelius umgaben. Diese Stelle, so hatte Robyn ihr mitgeteilt, war in der Vergangenheit auch „ad aquas salvias“, an den Wassern des Lebens, genannt worden. Hier, so lautete die Überlieferung, hatte der Apostel im Jahre 67 n. Chr. den Märtyrertod erlitten. Da er die römische Staatsbürgerschaft besaß, war ihm das grausame Schicksal des Kreuzestodes, wie Jesus und Petrus es erlitten hatten, erspart geblieben. Stattdessen war er durch das Schwert gerichtet worden.
    Im vierten Jahrhundert hatte Kaiser Konstantin dann ein bescheidenes Gotteshaus über seinem Grab errichten lassen. Heute indes erhob sich hier eine Basilika, die größer war als die Peterskirche und mit Mosaiken aus dem vergangenen Jahrhundert beeindruckte. Vorbei an dem einzigartigen, fünfzehn Fuß hohen Osterleuchter, den Künstler vor mehr als hundert Jahren angefertigt hatten, gelangten sie schließlich zur Grablege des Apostels, wo Pilger inbrünstig beteten.
    Endlich stand nun auch Leonor, gefolgt von Robyn, am Sarg des Märtyrers und sank auf die Knie. Sie schloss die Augen und dachte an Konrad und ihren kleinen Sohn, die noch am Leben hätten sein können, wenn sie ihren Gemahl nicht dazu gedrängt hätte, mit ihr in die Stadt zu reiten. Tonlos bat sie um Vergebung. Und auch für Anna sprach sie ein Bittgebet, ebenso wie für ihre kranke Mutter und ihre Schwester Cathérine und deren Kind, sowie für ihre Cousine Mathilde. Dann dankte sie Gott, dass er ihre Wege behütet und sie unbeschadet hierher geführt hatte.
    Sie blickte auf die Pilger, die sie umgaben, und fragte sich, welche Sünden und Sorgen sie wohl an das Grab des Apostels geführt haben mochten. So viele Menschen voller Verzweiflung, aber auch der Hoffnung auf Vergebung – wie sie sie selber hegte.
    Gern hätte sie noch länger an dieser heiligen Stätte verharrt, doch das unablässige Stoßen und Schieben der nachfolgenden Pilger veranlasste sie, sich zu erheben und dem Ausgang zuzustreben. Das sollte es also gewesen sein? Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Meilen war sie gepilgert, hatte die größten Entbehrungen und Strapazen auf sich genommen, um nur wenige Augenblicke lang vor dem Grab des Heiligen verharren zu können? Hatte sie nun wirklich Vergebung für ihre Schuld erlangt? Müsste sie nicht irgendetwas empfinden, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden? Aber in diesem Augenblick verspürte sie nichts dergleichen.
    Schon überlegte Leonor, ob sie sich vorsichtshalber ein zweites Mal in die Menge der Wallfahrer einreihen und noch einmal am Grab des Heiligen niederknien sollte. Doch dann befand sie sich als zu wenig standhaft im Glauben, denn gewiss kam es nicht darauf an, wie oft man den Apostel um Fürsprache bat, sondern darauf, dass man seine Sünden von Herzen bereute. Und das tat sie. Wenn es jedoch eine Sünde war, sich nach Robyn de Trouville zu sehnen, so vermochte sie keine Reue zu empfinden.
    Während sie, gedrängt und gestoßen von der nachfolgenden Menge und gefolgt vom Chevalier, in Richtung des Ausganges ging, ließ Leonor erneut ihre Blicke über die Scharen von Pilgern wandern. Vielleicht befanden sich Pater Anselm und seine Gruppe ja doch hier. Ach nein, dachte sie, der Zufall wäre einfach zu groß.
    Just in diesem Augenblick erspähte sie einen Mann, der die anderen um Haupteslänge überragte. War das nicht …? Leonor drängte sich durch die Menge und erhaschte schließlich einen Blick auf das Profil des Hünen. In der Tat, es handelte sich um Richard, den Gesellen des Dombaumeisters von Köln und Mitglied ihrer Wallfahrtsgruppe.
    War dies nur ein wundersamer Zufall oder gar etwa eine göttliche Fügung?
    Obwohl sie sich noch mitten in der Basilika befanden, rief Leonor: „He da, Richard, ich bin’s, Leonor.“
    Einige der Pilger fuhren herum und schüttelten missbilligend den Kopf.
    Auch Richard wandte sich um und starrte Leonor an, als sei sie ein Geist. Schnell schlug er ein Kreuzzeichen, wie um die Erscheinung zu vertreiben, und drehte sich wieder um. Denn was er gesehen hatte, konnte unmöglich Leonor sein. Die Person, die ihm zugerufen hatte, trug die Gewandung eines Knappen, das Gesicht war leicht gebräunt und die Figur ganz und gar nicht die einer Frau.
    Doch inzwischen hatte Leonor ihren ehemaligen Pilgerbruder erreicht und zupfte ihn am Ärmel seines Kittels.
    „Richard, ich bin’s, Leonor. Erkennst du

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