Die Pilgergraefin
mich denn nicht? Und wo sind Pater Anselm und die anderen? Was für eine Fügung des Himmels, dass wir einander hier wieder begegnen. Was ist damals in den Bergen nur passiert?“, sprudelte es aus ihr heraus.
Richard kratzte sich am Kinn und starrte den Jüngling in der Tunika, eine Kappe auf dem Kopf, ungläubig an. Mit seiner zarten Pilgergefährtin hatte er wenig gemein – und doch, die Stimme kam ihm vertraut vor. „Leonor?“, murmelte er. „Leonor, bist du es wirklich?“
„In der Tat, ich bin es“, beteuerte sie und wiederholte ihre Frage: „Wo sind Pater Anselm und die anderen?“
Langsam gewann Richard die Fassung wieder und deutete zum Ausgang. „Sie sind bereits draußen. Ich hatte in dem Gedränge meinen Pilgerstab verloren und musste zurück, um ihn zu suchen. Zum Glück habe ich ihn gefunden.“ Er deutet auf den Stock.
Inzwischen hatten sie das Portal, das ins Freie führte, erreicht und traten hinaus an der rückwärtigen Seite der Basilika auf den Vorplatz, der im hellen Sonnenschein dalag.
„Pater Anselm wird große Augen machen, wenn er dich in diesem Aufzug sieht“, bemerkte Richard. „Und nicht nur das. Er wird dir ganz schön die Leviten lesen. Du weißt, dass es Frauen verboten ist …“
„Ja, ja, ich weiß“, unterbrach Leonor ihn. „Aber diese Verkleidung hat mir das Leben gerettet. Später werde ich Pater Anselm und den anderen alles berichten. Gewiss wird ein jeder Verständnis dafür haben, dass ich diese Maßnahme ergreifen musste.“
Richard schüttelte zweifelnd den Kopf und starrte sie an, als sei sie ein Mondkalb.
„Wie kommt es, dass ihr bereits in Rom angelangt seid?“, erkundigte sich Leonor, denn die Pilgergruppe hatte gewiss kein Schiff genommen wie sie und Robyn. Aber wahrscheinlich hatte der Pater einen kürzeren Weg über die Alpenpässe gekannt.
„Oh, der Pater hat uns ganz schön angetrieben“, erwiderte Richard und schnitt eine Grimasse. „Nun ja, er selbst saß ja wegen seiner Verletzungen bequem auf einem Maulesel. Die Frauen haben geächzt und gestöhnt und konnten kaum mithalten. Nun hoffen wir alle, dass sich die Strapazen gelohnt haben und wir nach dieser Wallfahrt sündenfrei nach Hause zurückkehren können.“
Derweil Leonor mit dem Hünen sprach, offenbar ein Mitglied ihrer Pilgergruppe, hielt Robyn inne und betrachtete die beiden nachdenklich. Leonor schien sich zu freuen, einen der ehemaligen Gefährten wiedergetroffen zu haben, und würde gewiss die Heimreise mit der Gruppe antreten wollen. Wie sollte er sich verhalten? Sollte er ihr anbieten, weiter bei ihm zu bleiben und ihn zurück nach Frankreich zu begleiten – als … Knappe oder als …? Oder war es besser, wenn er sie in der Obhut der Pilgergruppe in die Heimat reisen ließ. Natürlich wollte er sich nicht von ihr trennen. Der Gedanke, sie niemals wiederzusehen, schmerzte mehr als der heftigste Lanzenstoß oder Schwerthieb, den er jemals erhalten hatte. Aber noch immer wusste er nicht, ob sie etwas für ihn empfand, und noch immer lag seine eigene Zukunft im Dunkeln. Und das Leben eines fahrenden Ritters, falls Charles V. sein Versprechen nicht erfüllte, konnte er Leonor in keinem Fall zumuten.
Hin- und hergerissen folgte Robyn ihr und dem Hünen zu einer steinernen Bank, wo im Schatten einer Pinie ein Mönch mit einem Pilgerstab saß, umgeben von einer Gruppe von Wallfahrern. Er hielt sich im Schatten eines Baumes, um Leonor unbemerkt beobachten zu können. Seit sie diesen Mitpilger getroffen hat, scheint sie mich völlig vergessen zu haben, dachte er enttäuscht.
„Pater Anselm, Pater Anselm!“, rief in diesem Augenblick der hochgewachsene Pilger. „Schaut, wen ich Euch hier bringe.“
So kurz wie möglich hatte Leonor dem Pater und den staunenden Pilgern von ihrer Odyssee berichtet und fragte nun: „Und wie ist es Euch ergangen, Pater Anselm?“ Doch sie erhielt keine Antwort.
Wie zuvor Richard starrte auch der Pilgerführer sie ungläubig und äußerst missbilligend an. Dass die vormalige Gräfin es gewagt hatte, Männerkleidung anzulegen, verschlug ihm schier die Sprache.
Robyn stand im Schatten des Baumes und fühlte sich überflüssig. Schließlich trat er näher und räusperte sich. „Leon – ich meine Leonor –, wie du weißt, habe ich eine Mission zu erfüllen und will so bald wie möglich das Sendschreiben des Herzogs von Mailand an Stefano Colonna überbringen.“ Mit rauer Stimme fuhr er fort: „Mir scheint, du bedarfst meiner Unterstützung
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