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Die Pilgergraefin

Die Pilgergraefin

Titel: Die Pilgergraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Mittler
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Buße seit jenem unseligen Vorfall vor nunmehr rund dreißig Jahren trug. Das schreckliche Geschehen, das ihm noch heute, nach all der Zeit, vor Augen stand, als wäre es gestern gewesen …
    Er hob die Hand, um sich eine juckende Stelle zu kratzen, und zuckte zusammen. Seit jenem Sturz in den Alpen war kein Tag vergangen, an dem ihn die Schmerzen in Arm und Bein nicht peinigten. Nur unter Aufbietung all seiner Willenskraft war es ihm gelungen, die ihm anvertrauten Pilger nach Rom zu führen. Doch auch er selbst hatte die Stadt um jeden Preis erreichen wollen, um dort, wie schon zuvor bei seinen Fahrten zu den bedeutendsten christlichen Wallfahrtsstätten, um Vergebung für die Schuld zu bitten, die er vor so vielen Jahren auf sich geladen hatte.
    Pater Anselm presste die Augenlider zusammen, doch die Bilder wollten nicht weichen. Wieder sah er, wohl zum tausendsten Mal, die Szene im Burghof seines Vaters vor sich. Wie zwei für die Bärenhatz ausgebildete Kampfhunde standen sie einander gegenüber, sein älterer Bruder Gisbert und er, die Hände zu Fäusten geballt, mit zornfunkelnden Augen.
    „Niemals, niemals, hörst du mich“, rief Anselm, „wird sie die Deine!“ Gisbert spuckte vor ihm aus und verzog hohnlächelnd das Gesicht. „Adelheid gehört mir und wird meine Gemahlin. Wir sind einander versprochen, und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.“
    Blind vor Wut stürzte Anselm sich auf den Bruder, bearbeitete ihn mit den Fäusten und trat ihm gegen das Schienbein. Dass Gisbert, der größer und stärker war als er, einfach nur dastand und ihn auslachte, fachte seinen Zorn nur noch weiter an. Seit er die schöne Adelheid zum ersten Mal gesehen hatte, verzehrte er sich nach ihr, malte sich in Wachträumen aus, wie er mit ihr das Lager teilte, sie nahm und sie zu der Seinen machte. Und er war sich sicher, dass sie ihn, den jüngeren Sohn, bevorzugt hätte, wäre die Ehe zwischen ihr und Gisbert, dem Älteren und zukünftigen Erben, nicht schon von ihren Vätern beschlossen worden. Hatte sie ihm nicht des Öfteren ein liebreizendes Lächeln und schmachtende Blicke geschenkt? Für ihn mit seinen knapp zwanzig Lenzen Zeichen genug, dass sie etwas für ihn empfand.
    Dass Adelheid weder ihn noch seinen Bruder ehelichen wollte, sondern einem schmächtigen blonden Junker, der ein guter Minnesänger war, zugetan war, hatte er damals nicht gewusst.
    Erneut sprang er vor und umschloss mit beiden Händen Gisberts Kehle, begann, ihn in blinder Wut zu würgen.
    Nun kam Leben in seinen Gegner. Mit einer kraftvollen Bewegung riss er sich los und versetzte ihm einen Hieb, der ihn ins Taumeln brachte. „Du elender Wicht!“, höhnte er. „Glaubst du ernsthaft, du könntest mir gefährlich werden? Adelheid gehört mir, mir ist sie anverlobt, und mir wird sie Söhne gebären. Also geh deiner Wege, und suche dir eine andere Braut. Oder tritt in ein Kloster ein. Mir scheint, das ist der Ort, wo du hingehörst, du Schlappschwanz.“
    Die gemeinen Worte des Bruders ließen Anselm alles vergessen, sodass er sich, einen gellenden Wutschrei ausstoßend, erneut auf ihn stürzte, und zwar mit solcher Vehemenz, dass Gisbert das Gleichgewicht verlor.
    Keiner von ihnen hatte dabei auf die Zisterne geachtet, die sich hinter Gisbert befand. Ein greller Aufschrei war das Letzte, was von ihm zu hören war, als er hinterrücks in den tiefen Brunnen stürzte.
    Einen Wimpernschlag lang stand Anselm wie gelähmt da. Dann sprang er vor und schwang sich auf die Ummauerung der Zisterne.
    Auch die Knappen und Reisigen, die den Zweikampf der Brüder beobachtet und ihn für ein unterhaltsames Zwischenspiel, aus dem nur Gisbert als Sieger hervorgehen konnte, gehalten hatten, stürzten nun herbei. Mit einer Leiter und Seilen eilten sie zum Brunnen, um den ältesten Sohn des Burgherrn zu retten.
    Anselm ließ sich einen Strick um den Leib binden und begann, gefolgt von dem Schildknecht seines Bruders, in die Zisterne hinabzusteigen.
    Doch als sie den Grund des Brunnens erreichten, packte sie das Grauen. Blicklos und entseelt trieb Gisbert in dem dunklen Wasser, den Kopf seltsam verrenkt. Offensichtlich hatte er sich bei dem Sturz das Genick gebrochen.
    Von diesem Tag an ließ sein Gewissen Anselm nicht mehr ruhen. Er war ein Mörder! Der Mörder seines eigenen Bruders! Unmöglich, seinem Vater unter die Augen zu treten. Nur gut, dass dieser gerade auf der Nachbarburg weilte, auf der Adelheid mit ihren Eltern lebte, um dort die letzten Absprachen

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