Die Pilgergraefin
uns ein Obdach und eine Mahlzeit geben.“ Obwohl sie Anna Hoffnung machte, war sie selbst tief in ihrem Herzen verzagt. Sie hatte als Tochter eines französischen Adligen und Gattin eines Grafen nie Not und Hunger leiden müssen. Stets hatten sich Bedienstete um ihr Wohl gekümmert und alles getan, damit es ihr an nichts fehlte – ein Umstand, den sie immer als selbstverständlich erachtet hatte.
Aber nun war sie diejenige, von der Annas Wohl abhing. Der Mensch, der neben ihrer Schwester den meisten Platz in ihrem Herzen einnahm – außer natürlich dem kleinen Konradin und ihrem Gemahl, die sie so früh verloren hatte. Tränen traten ihr in die Augen, als ihr wieder einmal bewusst wurde, warum sie diese Reise samt all ihren Strapazen auf sich genommen hatte. Warum sie hier war, nur begleitet von der getreuen Anna, hilflos ausgeliefert den Gewalten der Natur in einer einsamen, feindlichen Bergwelt, die ihr fremd war und wo jeder Schritt ins Verderben führen konnte.
Trost spendend, aber auch zugleich Hilfe suchend, legte sie Anna den Arm um die Schulter und bemerkte erschrocken, wie dünn und abgezehrt die sonst so rundliche Kammerfrau inzwischen geworden war. Das konnte nicht allein an der kargen Pilgerkost liegen, wenngleich sie selbst ebenfalls noch ein wenig schlanker geworden war. Wo hatte sie nur ihre Augen gehabt? War sie blind gewesen vor Kummer? Hatte sie nur an sich und ihr eigenes Leid gedacht und zu wenig an Anna – und an das, was sie ihr zumutete?
Anna traten ob dieser fürsorglichen Geste die Tränen in die Augen. Und als ihre Herrin sich auch noch besorgt nach ihrer Gesundheit erkundigte, brach all das, was sie so lange für sich in ihrem Herzen bewahrt hatte, aus ihr heraus.
„Ach, liebste Herrin, danke, dass Ihr Euch um mein Wohlbefinden sorgt. Ich fürchte, darum ist es nicht sehr gut bestellt. Mich plagt ein Ziehen im Leib, und ich glaube …“
„Ach, das kommt gewiss nur von der kargen Kost“, unterbrach Leonor sie, obwohl sie selbst nicht so recht daran glaubte, doch Anna schüttelte traurig den Kopf. Eine einzelne Träne rann ihr über die eingefallene Wange.
„Nein, ich denke, es ist Schlimmeres. Ihr müsst wissen, meine Mutter starb an einem Leiden im Unterleib, und ich vermute, dass auch ich an einem solchen erkrankt bin. Vermutlich ist das die Strafe für meine große Sünde.“
Leonor sah sie überrascht an. „Du hast gesündigt, Anna? Das kann ich nicht glauben. Seit ich dich kenne, warst du stets gut und gottesfürchtig.“
„Ja, da habt Ihr recht, Herrin. Aber bevor Ihr mich kanntet, habe ich gefehlt und die Sünde des Ehebruchs begangen.“
Anna, ihre Anna, eine Ehebrecherin? Das konnte Leonor nie und nimmer glauben. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihre Kammerfrau fuhr fort:
„Ihr wisst, dass ich kein inniges Verhältnis zu meiner Schwester Marie habe, und das hat seinen guten – oder besser gesagt schlimmen –Grund.“ Anna presste die Hand aufs Herz und schluchzte.
Leonor strich ihr über die abgearbeiteten Hände. „Was ist geschehen?“
„Damals war ich noch ein junges Ding und sah recht gut aus, wie man sagte. Das fiel auch Maries Ehemann auf, der mir schöne Augen machte. Und als Marie guter Hoffnung war und ihm im Ehebett nicht mehr gefällig sein konnte, hat er sich mir genähert. Zunächst habe ich mich geweigert. Doch eines Tages überraschte er mich im Wald, wo ich gerade Beeren pflückte. Er bot mir seinen Trinkschlauch an, und ich dachte, er enthielte Wasser. Indes war er mit schwerem Wein gefüllt, der gar köstlich schmeckte und mir irgendwie den Verstand raubte. Schließlich zog Randolf mich in seine Arme und küsste mich. Erst habe ich mich noch gewehrt, aber dann überkam mich ein süßer Taumel.“ Anna fuhr sich über die Augen.
„Doch wenn er dich mit Wein gefügig gemacht hat, so ist er der Schuldige, und du hast dir nichts vorzuwerfen“, wandte Leonor ein.
„Ach, es blieb nicht bei dem einen Mal“, gestand Anna. „Ich fand Gefallen am … Liebesspiel mit Randolf, der etliche Jahre älter als ich war und wusste, wie man einer Frau … Gefallen bereiten konnte.“ Nun schluchzte sie so sehr, dass sie am ganzen Körper bebte. Als sie sich wieder gefasst hatte, fuhr sie fort: „Herrin, ich dürfte Euch gar nicht mit solchen Dingen belästigen, aber da ich vielleicht nicht mehr lange zu leben habe … Die Schuld lastet schwer auf mir, und ich musste einfach einmal darüber reden. Zumal ich meiner Schwester, der
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