Die Pilgergraefin
Irgendetwas Schreckliches war geschehen, das wusste sie. Aber sie wagte es nicht, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Was mochte das nur für ein Gewicht sein, das sie so niederdrückte und unbeweglich machte?
Dann erinnerte sie sich wieder an das schreckliche Grollen, die Steine und den Stoß in ihrem Rücken und auch wie sie gestürzt und danach in die Finsternis geglitten war.
Ein Erdrutsch, ging es ihr durch den Kopf, und unwillkürlich riss sie die Augen auf – und schrie. Eine riesige rote Zunge – sie konnte nur einem Dämon oder dem Teufel selbst gehören – fuhr ihr übers Gesicht. Große gelbbraune Augen starrten sie an.
Entsetzt wollte Leonor aufspringen, doch das Gewicht hielt sie fest auf den Boden gedrückt. Nun verschwanden die Teufelszunge und die seltsamen Augen, und sie spürte, dass sich jemand an ihrem Rücken zu schaffen machte. Sie hörte ein Geräusch, als würden Steine zur Seite gerollt, und schon fiel die schwere Last von ihr ab.
Mühsam rappelte sie sich auf, stützte sich auf die Unterarme – und blickte erneut in die gelbbraunen Augen. Und nun sah sie, dass sie im zottigen Gesicht eines riesigen Tieres funkelten, dessen lange rote Zunge ihm aus dem Maul hing, in dem große, gefährlich aussehende Reißzähne zu sehen waren.
Ein Hund? Es musste ein Hund sein, denn gewiss streunten zwar Wölfe durch dieses einsame Gebirge, aber diese hätten sie entweder schon längst gefressen oder sich aber bei ihrem Schrei auf und davon gemacht.
Leonor fasste das Tier näher ins Auge und entschied, dass es sich um eine Art Hirtenhund handeln musste. Erleichtert atmete sie auf, denn vor Hunden fürchtete sie sich nicht. Auf Burg Guiémar war sie mit Hunden aller Größen und Rassen aufgewachsen – angefangen vom winzigen Schoßhündchen, das ihre Mutter sich hielt, und den Jagdhunden aller Art, die ihren Vater und Bruder in den Forst begleiteten, bis hin zu den bedauernswerten riesigen Wachhunden, die am Burgtor angekettet waren, um ungebetenen Besuchern Furcht einzujagen.
Vorsichtig streckte sie die Rechte aus, und sogleich leckte das zottige Tier ihr die Hand. Nun wusste Leonor, dass sie von dem Hund nichts zu befürchten hatte, und rappelte sich auf die Knie auf. Vor sich sah sie eine Schlammlawine, die den schmalen Weg versperrte. Wieder fiel ihr das seltsame Donnergrollen ein – und Anna! Anna!
Wo war Anna?
Eine böse Vorahnung überkam sie. Langsam erhob Leonor sich, wobei ihr jeder Knochen im Leibe schmerzte. Anna! Sie musste sie finden und sehen, wie es der Guten ging. Wahrscheinlich war sie verletzt oder ohnmächtig wie sie selbst noch vor wenigen Augenblicken. Leonor zwang sich, sich umzublicken – und erstarrte. Nur zwei Ellen hinter ihr lag Anna, seltsam verkrümmt und erstarrt. Aus einer großen Wunde an ihrem Hinterkopf sickerte Blut. Mit bebenden Händen drehte sie den Körper ihrer Kammerfrau um.
Und schaute in die weit aufgerissenen Augen der Getreuen, die gebrochen und blicklos waren und verrieten, dass Annas Seele aus ihrem Leib gewichen war.
Mit einem lauten Aufschrei kniete sie neben der leblosen Gestalt nieder, nahm Annas schon kalte Hände in die ihren und rieb sie, versuchte, sie zu erwärmen, und wusste doch, dass Anna sie für immer verlassen hatte. Wieder und wieder rief sie ihren Namen, streichelte die eisigen Hände, strich ihr über das blutverschmierte Haar und wäre fast erneut in Ohnmacht gesunken, hätte der große Hund sie nicht sanft an der Schulter gestupst.
Leonor blickte auf und sah in die gelbbraunen Augen des Tieres, das sie zurück in die Wirklichkeit gebracht hatte.
Und in diesem Augenblick erst wurde ihr klar, was diese Wirklichkeit bedeutete: Anna, die gute Anna, die stets so etwas wie eine zweite Mutter für sie gewesen war, hatte sich geopfert, um ihr das Leben zu retten. Sie hatte sich schützend über sie geworfen und so den schlimmsten Steinhagel von ihr ferngehalten.
Und dann kam ihr eine zweite Erkenntnis: Sie war schuld an Annas Tod. Denn wäre sie nicht zu dieser Pilgerfahrt aufgebrochen, auf die die treue Seele ihr ohne Wenn und Aber gefolgt war, dann säße die Gute jetzt warm und bequem in ihrer Kammer auf Burg Eschenbronn, würde einen Schleier besticken oder …
Ein solch heftiger Schmerz überkam Leonor, dass sie sich neben Annas leblosem Körper zu Boden warf. Tränen rannen ihr ohne Unterlass aus den Augen. Was musste sie nur für eine verderbte Person sein, dass sie Schuld am Tod von drei geliebten Menschen trug? Was
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