Die Pilgergraefin
hatte er hier im „Coq au Sud“ ein weitaus bequemeres Quartier gehabt. Nach einem letzten Blick auf den schlafenden Jérôme wandte er sich zur Tür, die so niedrig war, dass er sich bücken musste, um durch sie hindurch zu gelangen. Gewiss würde Joséphine ihm erzählen können, was der Medicus ganz genau diagnostiziert und angeordnet hatte. Außerdem brannte er darauf, zu erfahren, was Pierre, Joséphines Mann, widerfahren war und weshalb sich das „Coq au Sud“ in einem so desolaten Zustand befand. Doch zunächst galt es Hunger und Durst zu stillen, und er freute sich bereits auf einen Pokal mit dem ausgezeichneten provenzalischen Rotwein, den der Patron ihm bei seinem letzten Aufenthalt in Avignon kredenzt hatte, und eine kräftige, gut gewürzte Mahlzeit.
In der leeren Gaststube empfing Joséphine ihn knicksend und führte ihn an ihren besten Tisch.
„Ich hoffe, Chevalier, Ihr gebt Euch mit einem Eintopf zufrieden. Leider fehlen mir die Mittel, um die Zutaten für aufwendigere Gerichte einzukaufen.“
Robyn setzte sich und nickte. „Nun, auf meinen Reisen habe ich mit weniger vorliebnehmen müssen. Gewiss wird dein Eintopf mir munden und mich sättigen.“ Im Geiste stellte er sich auf einen würzigen Hammeleintopf ein – nicht unbedingt sein Lieblingsgericht, aber immerhin recht schmackhaft und nahrhaft. Aber die Miene der Wirtin ließ ihn ahnen, dass ihm an diesem Abend selbst ein so einfaches Gericht nicht serviert werden würde.
Joséphine knickste erneut und begab sich in Richtung Küche. Wenig später kehrte sie mit einem hölzernen Napf, einem Zinnhumpen und einem Kanten Brot zurück und stellte alles vor ihn auf den Tisch.
Robyn warf einen Blick in den Napf, der eine dünne Gemüsesuppe samt einer Speckschwarte enthielt, und dann in den Zinnbecher, in dem sich keinesfalls ein edler Rotspon, sondern irgendein anderes Gebräu befand. Er hob die Augenbrauen und sah die Wirtin fragend an.
„Tut mir leid, Chevalier, etwas anderes kann ich Euch leider nicht offerieren. Wie gesagt, seit mein lieber Mann …“
„Schon gut“, unterbrach Robyn die Wirtin, die sich, seit er sie vor zwei Jahren zuletzt gesehen hatte, von einer molligen Frau in den besten Jahren in eine abgemagerte, verhärmt aussehende Vettel verwandelt hatte. „Ich werde nun diesen … hm … Eintopf zu mir nehmen, und danach wirst du mir berichten, was der Medicus genau gesagt hat und was deinem Mann widerfahren ist. Vielleicht vermag ich dir zu helfen.“
Kurz leuchteten Joséphines Augen auf, bevor sie wieder kummervoll blickten und sie sich in die Küche zurückzog.
Um den nagenden Hunger zu vertreiben, verspeiste Robyn die Brühe sowie ein Stück der Speckschwarte und löschte seinen Durst mit dem säuerlich schmeckenden dünnen Bier.
Morgen, nach der Audienz beim Monsignore, würde er sich im besten Speisehaus am Platze all das gönnen, was er auf dem langen Ritt von Paris nach Avignon hatte entbehren müssen. Schließlich musste ein Mann bei Kräften bleiben. Möglicherweise stand ihm ja noch die Weiterreise nach Mailand – und vielleicht sogar nach Rom – bevor.
Endlich war die Passhöhe erreicht. Leonor und Anna blieben stehen und ließen ihren Blick in die Ferne schweifen. Die Landschaft, die vor ihnen lag, war kaum anders als die, welche sich ihnen auf der anderen Seite des Bergkammes dargeboten hatte: graugrüne Matten, von Felsbrocken übersät. Kein Vieh, das darauf weidete, nicht einmal eine genügsame Bergziege. Nur Einöde, so weit das Auge reichte, nicht das geringste Anzeichen einer menschlichen Behausung.
Zwar würde der Weg talabwärts weniger beschwerlich sein als der bergauf, doch nach dem Abstieg galt es unweigerlich, eine neue Höhe zu erklimmen – und wie viele noch folgen würden, bis man die Bergregion überwunden hatte, wusste allein der Himmel.
Ein Gefühl der Mutlosigkeit überkam Leonor, was sie sich Anna gegenüber aber nicht anmerken ließ, denn sie spürte, dass diese am Ende ihrer Kräfte war.
Sie beschattete die Augen mit der Rechten, um sie vor den gleißenden Sonnenstrahlen zu schützen, und sah sich erneut um. Die Passhöhe befand sich oberhalb der Baumgrenze, doch in beträchtlicher Entfernung unter ihnen wuchsen einige verkrüppelte Kiefern. Und noch weiter unten gab es ein Wäldchen aus Fichten oder Tannen. Weiter konnte Leonor nicht blicken. Doch auf einmal war ihr, als würde sich ein dünner Rauchfaden über dem Tann erheben. Rauch – das konnte nur eines bedeuten.
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