Die Pilgergraefin
Klippen von Dover zerschellt wäre. Seitdem waren ihm Seereisen ein Gräuel, und er verließ nur im äußersten Notfall das feste Land. Doch wäre seine Tätigkeit als Kurier des Königs beendet und würde er erst einmal über eigenen Grundbesitz verfügen, könnte er seine Ländereien auch zum Blühen bringen und … Plötzlich erschien ein neues Bild in seiner Vision. Er sah, wie seine Söhne und Töchter dort heranwuchsen …
Himmel, Robyn was ist los mit dir? Wirst du etwa alt? Denkst du ernsthaft daran, eine Familie zu gründen und dich häuslich niederzulassen?
Die Stimme des Privatsekretärs rief ihn in die Gegenwart zurück. „Ich habe die Botschaft Eures Königs studiert und auch die Worte Seiner Eminenz, des Kardinalprimas, memoriert. Seid gewiss, dass ich Seine Heiligkeit in gebotener Form davon in Kenntnis setze.“
In gebotener Form, dachte Robyn und konnte einen gewissen Zynismus nicht unterdrücken. Zu gerne hätte er gehört, mit welchen Worten Petrocelli den Inhalt von König Charles’ Sendschreiben an den Papst weitergeben würde. Doch ihm lag in diesem Augenblick etwas anderes am Herzen: das Wohl von Pierre Barthélemy, der seit nunmehr einem Jahr in irgendeinem finsteren Kerker schmachtete, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde. Wahrscheinlich wartete man auf eine passende Gelegenheit, um den vorlauten Wirt als Sünder vorzuführen und ein blutiges Exempel an ihm zu statuieren. So neigte er denn sein Haupt tiefer, als dies dem Sekretär gebührt hätte, und begann: „Auf ein Wort, Monsignore. Erweist mir die Gunst, mir Eure kostbare Zeit noch in einer anderen Angelegenheit zu schenken.“
Petrocelli, der sich am vorigen Tage nach langen Bemühungen endlich der Gunst einer der begehrtesten Huren von Avignon hatte erfreuen können, befand sich in huldvoller Stimmung.
„Wie Ihr wisst, Chevalier, bin ich ein überaus beschäftigter Mann.“ Er hüstelte und fuhr fort: „Indes unterbreitet mir Euer Anliegen in kurzen Worten.“
Robyn, ohnehin kein Mann weitschweifiger, blumiger Reden, wie sie bei Hofe üblich waren, fasste schnell sein Anliegen zusammen.
Der Monsignore hob die Augenbrauen, äußerte sich aber nicht weiter zur Sache. „Ich will sehen, was ich für Euch tun kann“, erwiderte er ausweichend. Mit einem salbungsvollen Kreuzzeichen entließ er den Kurier des Königs und widmete sich wieder dem Studium seiner Unterlagen.
14. KAPITEL
D er Anblick der toten Anna und das Gefühl grenzenloser Einsamkeit und Verlassenheit schnürten Leonor die Kehle zu. Was sollte sie nun tun? Wie sollte es weitergehen? Wie sollte sie jemals ohne Führung und Begleitung nach Rom gelangen, um Vergebung für ihre Schuld zu erlangen? Wieder einmal traten ihr Tränen in die Augen, liefen ihr über die Wangen.
Dann aber riss sie sich zusammen: Sie durfte Anna hier nicht so liegen lassen. Das wäre unchristlich. Und wahrscheinlich gab es sogar in dieser kargen Gegend noch wilde Tiere … Aber wie sollte sie den Leib hier bestatten, ohne Werkzeug, wo der Boden dazu noch so hart und steinig war?
„Verzeih mir, Anna“, flüsterte sie, packte den Leichnam bei den Armen und zog ihn an den Rand des Pfades. Nein, eine Beisetzung in geweihter Erde konnte sie ihrer Getreuen nicht verschaffen, aber sie konnte sie schützen, falls es Raubtiere gab, die sich an ihrem Leichnam vergehen würden. Und so begann sie, Felsbrocken anzuhäufen über dem Leib der Toten, bis dieser unter einer Pyramide von Steinen nicht mehr zu sehen war. Inzwischen brannte die Sonne heiß vom Himmel, und Leonor musste sich ein über das andere Mal den Schweiß aus dem Gesicht wischen.
Schließlich blickte sie sich um, fand zwei Äste, die sie mit einem Lederriemen zu einem Kreuz band, und steckte es auf den Steinhaufen. Danach sank sie auf die Knie, faltete die Hände und murmelte ein Gebet, in dem sie Anna für all ihre Liebe und Güte dankte und ihre Seele ihrem Schöpfer empfahl.
Es fiel ihr unendlich schwer, sich zu erheben und den Ort zu verlassen, an dem Annas Leib nun bis zur Auferstehung ruhen würde. Doch wieder einmal half ihr das Stupsen des Hundes, der sie aus klugen Augen anblickte. Nach einem letzten Kreuzzeichen hob sie ihr Bündel auf, verstaute auch Annas Sachen darin, schulterte es und machte sich daran, die Ausläufer der Schlammlawine, die den Bergpfad versperrten, zu überwinden.„Komm, Tarras!“, rief sie dem Hund zu, ohne sich gewahr zu sein, dass sie dem Tier den Namen eines der geliebten Jagdhunde ihres
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