Die Pilgergraefin
nicht, dass sein Knappe beim Sprechen vor Schmerzen das Gesicht verzogen hatte, und erneut überkam ihn ein Anflug schlechten Gewissens, als er daran dachte, wie er den Jungen über so viele Meilen durch Frankreich getrieben hatte. Freilich war ihm nicht bewusst gewesen, dass Jérôme sich gleich mehrere Rippen gebrochen hatte. Bei ihm selbst war es nur eine Rippe gewesen, aber er hatte von Jérôme die gleiche Härte und Disziplin erwartet, die auch er damals an den Tag gelegt hatte. Etwas wie Bewunderung kam in ihm auf, als ihm klar wurde, wie wacker sich Jérôme gehalten hatte. Vielleicht würde ja doch noch ein passabler Ritter aus ihm werden.
„Docteur Eusebius wird später noch einmal nach dir sehen, und ich bin sicher, er wird dich wieder auf die Beine bringen.“
„Ja, Chevalier, er scheint ein guter Medicus zu sein. Allerdings hülfe es mir auch sehr, wenn ich, um wieder auf die Beine zu kommen, endlich etwas in den Magen bekäme.“
Er hat Hunger, ein gutes Zeichen, dachte Robyn und munterte seinen Knappen mit der Aussicht auf den gebratenen Kapaun gewaltig auf, bevor er wieder nach unten ging, um nach den Pferden zu sehen.
Erneut wachte Leonor auf, weil sie von einer feuchten Hundenase angestupst wurde. Vor lauter Erschöpfung war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Als sie sich nun mühsam erhob, wünschte sie, nie mehr aus diesem Schlummer erwacht zu sein, freute sich aber auch, dass der Hund zu ihr zurückgekehrt war.
Freudig wedelnd umrundete Tarras sie und lenkte ihren Blick auf ein Fellbündel zu ihren Füßen – ein totes Murmeltier, vermutete sie. Hatte der Hund es selbst erlegt? Aber nein, Tarras war ein Hüte- und kein Jagdhund. Doch warum hatte er sich nicht an der Beute gütlich getan, die möglicherweise einem Raubvogel zum Opfer gefallen war, und seinen Hunger gestillt? Immerhin sah er nicht so aus, als hätte er in letzter Zeit viel Nahrung gefunden.
Ein wenig belebt von der Aussicht auf eine Mahlzeit und dankbar für die Treue des Tieres, tätschelte Leonor ihm den Kopf und starrte dann hilflos auf das Fellbündel zu ihren Füßen. Was war zu tun? Noch nie zuvor hatte sie selbst einen Braten zubereitet, ganz zu schweigen davon, dass dieser noch nicht einmal – Leonor erschauderte – gehäutet und ausgeweidet war. Doch ihr Hunger war größer als aller Ekel, und so nahm sie ihren Essdolch und begann mit der Arbeit. Da Tarras sie mit großen Augen bittend ansah, warf sie ihm, während sie säbelte und schnitt, immer wieder Knochen und Innereien zu und machte sich, als sie fertig war, daran, Holzstücke und Äste zu suchen, um ein Feuer zu errichten, über dem sie ihre Mahlzeit am Spieß braten konnte.
Sie kramte in dem Reisebündel nach einem Feuerstein, wurde indes nicht fündig. Zwar hatte sie noch niemals ein Feuer entzündet, doch sie war sicher, dass es ihr gelungen wäre. Und nun? Würde sie das Murmeltier roh essen müssen? Wieder stieg Ekel in ihr auf. Dann fiel ihr Blick auf den noch immer schwelenden Baum, und ihr kam eine Idee. Sie ging zu der Fichte, die der Blitz getroffen hatte, und stocherte mit einem trockenen Ast so lange in der Glut, bis er Feuer fing. Mit diesem gelang es ihr, die zuvor gesammelten Zweige zum Brennen zu bringen. Auf Spießen breitete sie das Fleisch darüber aus, und schon bald stieg ihr ein appetitlicher Duft in die Nase. So hungrig war sie, dass sie die ersten Stücke halb roh verschlang.
Zuerst fühlte sie sich gesättigt, doch dann wurde ihr übel. Sie würgte die Brocken wieder hervor und warf sie dem Hund vor. Nun wartete sie ab, bis das Fleisch gar war, und aß es langsam kauend.
Als sie satt war, wickelte sie den Rest in ein Leinentuch, das noch einigermaßen sauber war, und bereitete sich auf eine lange, einsame Nacht vor. Doch so hilflos und allein, wie sie sich vor einigen Stunden noch gefühlt hatte, war ihr nicht mehr zumute. Tarras war zurückgekehrt und kuschelte sich nun an ihre Seite, als wolle er sie mit seinem Körper wärmen.
Zwar hatte der Herr ihr die gute Anna genommen, ihr jedoch auch einen Gefährten geschickt, an dessen Seite es ihr vielleicht gelingen würde, die Berge zu überwinden und die Ebene jenseits der Alpen, wo weniger Hunger und Gefahren lauerten, zu erreichen.
Dass dort noch ganz andere Gefahren für Leib und Seele auf sie lauerten, ahnte Leonor gottlob nicht.
15. KAPITEL
Ä chzend und stöhnend hatte Jérôme es mit Hilfe des Chevaliers die Stiege hinab in den Gastraum geschafft,
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