Die Pilgergraefin
von Bergbewohnern begangen werden musste. Vielleicht stiegen Jäger gelegentlich hier hinauf? Aber was sollten sie jagen? Außer ein paar Murmeltieren oder vielleicht einer Gemse schien es hier keine Beute zu geben. Schließlich gab sie es auf, Antworten auf ihre Fragen zu suchen.
Dann – nach einer weiteren Biegung – blieb sie abrupt stehen und riss die Augen auf. Dort unten lag der Talgrund – und am Ufer eines Baches kauerten ein paar aus Feldsteinen und Holz errichtete Hütten.
Ein Jubelschrei löste sich von ihren Lippen, und aufgeregt deutete sie auf die bescheidenen Behausungen.
„Sie nur, Tarras, dort werden wir sicher Hilfe erhalten.“
Doch der Hund schien ihre Freude nicht zu teilen. Die Rute eingeklemmt, folgte er ihr nur zögerlich.
Ungeduldig wartete Robyn darauf, dass man ihn erneut in die Papstburg rief, wo er endlich erfahren würde, ob seine Mission nunmehr zu Ende war oder er noch weiter zum Herzog von Mailand reiten musste. Die Botschaften, die König Charles und der Kardinalprimas Papst Gregor XI. übermittelt hatten, schienen jedoch längere Beratungen zu erfordern.
Er saß in der Gaststube des „Coq au Sud“, ließ sich das Hähnchen in Weinsoße schmecken und ließ die Fragen Joséphines über sich ergehen, die immer wieder wissen wollte, wann ihr lieber Mann denn nun aus dem Kerker entlassen werden würde. Natürlich verstand er die Sorge der Frau und hoffte, dass er dem Monsignore das Säckchen mit dem Silber nicht umsonst zugesteckt hatte. Aber er wusste auch, dass die Mühlen Gottes – oder besser gesagt, die seiner Vertreter auf Erden – langsam zu mahlen pflegten, und so vertröstete er Joséphine ein ums andere Mal. Hoffentlich hatte er keine falschen Hoffnungen in ihr geweckt. Indes hatte er bei seinem Besuch bei Monsignore Petrocelli durchaus den Eindruck gehabt, dass dieser in der Lage war, einige Fäden zu ziehen und damit die Freilassung des Wirtes zu ermöglichen.
Robyn blickte auf, als das Knarren der Tür einen Gast ankündigte – und erschrak. Auf der Schwelle stand ein abgemagerter Mann mit eingefallenen, blutverkrusteten Wangen, der in stinkende Lumpen gehüllt war.
Schon sprang Joséphine auf und schrie beim Anblick der dürren Bettelgestalt: „Hinaus mit dir!“
Doch der Mann, der aussah, als hätte er einige Zeit in den Höhlen der Aussätzigen vor der Stadt oder gar dem zur Zeit der Römer gefürchteten Marmertinischen Kerker verbracht, den damals kaum jemand lebend verlassen hatte, trat auf sie zu und wollte sie in die Arme nehmen.
Kreischend trat Joséphine zurück, die Hände in Abwehr erhoben.
„Ich bin’s, meine liebe Frau“, flüsterte da die Jammergestalt. „Ich bin’s, dein Pierre.“
Ungläubig riss Joséphine die Augen auf. Seit einem Jahr hatte sie ihren Mann nicht gesehen, denn man hatte es ihr verwehrt, ihn zu besuchen, um ihm Kleidung und Nahrung zu bringen.
Und auch Robyn konnte es nicht fassen. Dies sollte Pierre sein, der stattliche Gastwirt, den er ihn in Erinnerung hatte?
„Pierre? Mein Pierre?“, hauchte Joséphine. „Du bist es? Nein …“
„Doch, ich bin’s, dein Pierre. Endlich bin ich wieder bei dir.“
Joséphine blickte dem Geschundenen in die Augen, und obwohl diese glanzlos und trübe waren, erkannte sie nun ihren Mann und stürzte sich in seine ausgestreckten Arme.
„Oh Pierre, mein Pierre! Endlich habe ich dich wieder! Aber um Himmels willen, was haben sie bloß mit dir gemacht, du Armer? Doch warte nur, schon bald wird es dir wieder besser gehen … gewiss bist du hungrig!“
Robyn war klar, dieser Mann brauchte eine Mahlzeit dringender als er, und so schob er seine Schüssel mit dem Hähnchen in seine Richtung und sagte: „Stärke dich, Pierre, und berichte mir dann, was dir widerfahren ist.“
Der Wirt beäugte ihn und rief dann aus: „Chevalier, Ihr seid es! Wie gut, Euch zu sehen.“ Dankbar ließ er sich auf die Holzbank gegenüber dem Ritter sinken, bedeutete seiner Frau, an seiner Seite Platz zu nehmen, und machte sich über das köstliche Gericht her – das beste in seinem Leben, wie ihm dünkte, nach einem Jahr Wassersuppe und schimmeligem Brot im Kerker, wo er, ohne Tageslicht und nur mit ein paar Ratten als Gesellschaft, geschmachtet hatte.
Und dies alles wegen ein paar unbedacht geäußerter Worte, die, davon war er nach wie vor fest überzeugt, der Wahrheit entsprachen und ihn nicht der Sünde der Lüge schuldig machten. Doch er würde sich sehr wohl hüten, sie jemals wieder
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