Die Pilgergraefin
Peiniger zu entkommen.
Nein, sie durfte keines der Brote weggeben! Und so schüttelte sie langsam den Kopf und bedeutete dem Mädchen zu verschwinden.
Erneut streckte Leonor die Hand aus, fiel sogar auf die Knie. Wenn die Frau ihr nichts zu essen gab, würde sie gewiss Hungers sterben müssen.
Plötzlich erinnerte sie sich an die Münzen in ihrem Beutel und begann danach zu graben. Schließlich fand sie ein paar Kupferpfennige – eigentlich zu viel für einen Laib Brot – und hielt sie der Alten hin.
Beim Anblick der Münzen geriet Zenobia in Versuchung. Sie arbeitete hier für Vigo und seine Schmugglergesellen, seit sie vor Jahren ihren Mann bei einem Lawinenunglück verloren hatte, ohne Lohn als Köchin und Waschfrau, nur gegen Kost und für die Bleibe in der halb verfallenen Hütte. Von den Pfennigen der jungen Frau konnte sie sich, wenn sie am Ende des Sommers zum jährlichen Besuch ins nächstgelegene Dorf im Tal kam, auf dem Michaelis Markt das ein oder andere kaufen. Und sollte Vigo bemerken, dass ein Brot fehlte, würde sie ihn mit einer der Münzen besänftigen.
„Komm näher, Mädchen“, sagte sie. Und als sie merkte, dass die junge Frau sie nicht verstand, bedeutete sie ihr mit einer Geste, sich eines der Brote zu nehmen, die sie zum Auskühlen auf eine Art Rost gelegt hatte.
Das ließ Leonor sich nicht zweimal sagen. Schnell sprang sie herbei, nahm eines der warmen, duftenden Brote und brach sich sogleich einen Kanten ab, den sie sich hungrig in den Mund schob. Den Rest wickelte sie sorgsam in ein Tuch und steckte es in den Beutel. Dann reichte sie der Frau die Kupferpfennige. Die machte die Probe, ob sie auch wirklich echt waren, indem sie mit ihren wenigen noch verbliebenen Zähnen in sie hineinbiss. Dann nickte sie, lächelte und bedeutete dem Mädchen zu warten.
Hurtiger, als Leonor es für möglich gehalten hatte – vielleicht war die Frau noch gar nicht so alt, wie sie aussah –, eilte diese in die Hütte und kam bald darauf mit einem großen Stück Käse und einer geräucherten Wurst zurück. Beides drückte sie Leonor, die ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre, in die Hand. Sie äußerte auf Französisch ihren Dank, dann auf Deutsch, und schließlich versuchte sie es mit dem lateinischen „benigne“. Doch jedes Mal schüttelte die Alte verständnislos den Kopf.
Zu schade, dass sie deren Sprache nicht beherrschte – und da wurde Leonor klar, dass sie nicht einmal wusste, in welchem Land sie sich überhaupt befand. Sie verstaute Wurst und Käse in ihrem Pilgerbeutel und deutete dann auf den Pfad, der von dem Weiler wegführte. Dabei sah sie die Frau mit großen Augen fragend an und hoffte, dass diese verstand, dass sie nach dem Weg ins nächste Dorf fragte.
Die Alte nickte und machte Gesten, die, so glaubte Leonor, bedeuteten, dem Pfad zu folgen.
Plötzlich ergriff die Frau den Stock, den Leonor auf der Lichtung gefunden hatte, und ritzte mit seinem Ende einen gewundenen Pfad in den Boden. Danach malte sie etwas, das Leonor als Abzweigung deutete, und einen Pfeil nach rechts, dem sie weitere Pfeile folgen ließ, an deren Ende sie etwas zeichnete, das wie ein Kirchturm aussah.
Ein Kirchturm! Wollte die Frau ihr sagen, dass am Ende des Weges ein Dorf lag? Fragend sah sie sie an, und die Alte kritzelte noch etwas wie ein Haus neben den Kirchturm. Dann reichte sie ihr den Stecken zurück und nickte, offensichtlich zufrieden mit ihrem Werk.
Leonor ergriff die Hände der Alten, presste sie dankbar und wünschte ihr auf Französisch alles Gute.
Die Frau grinste mehr oder weniger zahnlos und deutete heftig nickend auf den Pfad. Dann wandte sie sich wieder dem Backofen zu, und Leonor ging zurück auf den Weg, nicht ohne sich noch einmal nach dem Haus am Dorfeingang umzublicken. Doch der unfreundliche Riese war nirgends zu sehen, die hölzerne Tür seines Hauses aus Feldsteinen fest geschlossen. Erleichtert atmete Leonor auf und machte sich auf den Weg, in der Hoffnung, das ihr beschriebene Dorf noch am selbigen oder morgigen Tag zu erreichen.
16. KAPITEL
R obyn hatte die Grenze zwischen Frankreich und Italien hinter sich gelassen – ebenso wie Jérôme, der in Avignon, betreut und gepflegt von Joséphine, zurückgeblieben war, nachdem Docteur Eusebius ihm aufs Entschiedenste die Weiterreise untersagt hatte, so er nicht Leib und Leben gefährden wolle.
Robyn erinnerte sich an den heftigen Protest seines Knappen, doch er hatte ihm energisch verboten, ihn auf dem Ritt nach
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