Die Pilgergraefin
dringend, und da kann ich nicht allzu lange auf ein passendes Schiff für die Weiterreise nach Rom warten. Vielleicht findest du ja dort deinen vormaligen Herrn, den Chevalier de Riberac, wieder.“
„Das könnte möglich sein“, erwiderte Leonor knapp.
Robyn warf dem Jüngling, der an seiner Seite ritt, wieder einmal einen prüfenden Blick zu. Mittlerweile war es ihm fast zur Gewissheit geworden, dass Leon ein Mädchen war – zu anmutig waren manche seiner Bewegungen, zu hell klang seine Stimme mitunter, zu wohlgestaltet waren seine Gesichtszüge. Das würde auch die beunruhigende Anziehungskraft erklären, die der Jüngling auf ihn ausübte. Andererseits dünkte ihn dies wiederum ganz und gar unmöglich. Denn welche Frau würde es schon wagen, sich als Mann auszugeben …
Immer tiefer drangen sie nun in die düstere Berglandschaft vor, die sie vom Mittelmeer trennte.
Leonor erschauderte, denn im Gegensatz zu den Alpen, die sie mit ihrer majestätischen Höhe und den schneebedeckten Gipfeln zugleich fasziniert und erschreckt hatten, flößte ihr diese Gegend nur Angst ein. Sie wirkte so feindlich und unwirtlich. Seit Stunden hatten sie kein Gehöft mehr, geschweige denn ein Dorf passiert.
Robyn, der ihre bedrückte Stimmung bemerkte, erzählte ihr deshalb, um sie aufzumuntern, von seinen abenteuerlichen Fahrten als Kurier des Königs und unterhielt sie mit Anekdoten über seinen ungeschickten Knappen Jérôme. Als er ihr schilderte, wie dieser in seinem Übereifer in die Rhône gestürzt war, musste Leonor hellauf lachen – und spürte sofort wieder den fragenden, prüfenden Blick des Ritters auf sich. Hatte sie wie eine Frau gelacht? Schnell riss sie sich zusammen und erkundigte sich mit möglichst tiefer Stimme: „Glaubt Ihr, dass Jérôme genesen und nach Hause heimkehren wird, Sieur?“
„Davon bin ich überzeugt, Leon. Sonst hätte ich ihn nicht allein in Avignon zurückgelassen.“
Gerade ritten sie durch einen besonders finsteren Wald, dessen Bäume nicht dem Schiffsbau zum Opfer gefallen waren, und Leonor war froh, den starken Ritter an ihrer Seite zu wissen. Allein mit Tarras wäre ihr viel unbehaglicher zumute gewesen.
Robyn deutete auf den Himmel, der immer dunkler wurde und in der Ferne ein schwefelgelbes Band zeigte. Die drückende, unerträgliche Hitze machte ihnen das Atmen schwer. „Ich denke, wir werden in ein Gewitter geraten. Ich hoffe, du fürchtest dich nicht vor Blitz und Donner, Leon?“
Leonor musste an all die Gewitter mit ihren bösen Folgen denken, die bisher ihren Pilgergang überschattet hatten, insbesondere an die Sintflut mit dem nachfolgenden Steinschlag, der die getreue Anna das Leben gekostet hatte. Doch sie durfte dem Ritter nichts von diesen Geschehnissen verraten, und so murmelte sie nur: „Schon wieder ein Unwetter. Die sind in diesem Sommer ungewöhnlich zahlreich. Nein, Donner und Blitz fürchte ich nicht, Chevalier. Indes wäre es schön, ein trockenes Plätzchen zu finden und vor Wölfen sicher zu sein.“ Und wie aufs Stichwort ertönte in diesem Augenblick ein schauerliches Geheul, das sogar Tarras zusammenfahren ließ. Also doch, auch hier gab es die grauen Räuber!
„Wenn wir rasten, werden wir ein großes Feuer errichten“, sagte Robyn. „Du weißt ja inzwischen, Wölfe und Bären fürchten sich davor.“
Als sie den dunklen Tann verließen, wurden sie von einer heftigen Windbö gepackt. Vor ihnen lag ein enges Tal, flankiert von steilen Felswänden – hier würde sich ihnen kein Unterschlupf bieten. Schnell durchritten sie die Schlucht und gelangten auf eine kleine, von steilen Hügeln begrenzte Ebene.
„Seht, Chevalier, eine Burg. Dort werden wir für die Nacht unterkommen können!“, rief Leonor und deutete auf ein Gemäuer auf einem Felsplateau, das gewiss schon seit mehr denn hundert Jahren an diesem Platz stand.
Robyn sah nach oben und entdeckte einen Bergfried, der auf der Hügelkuppe emporragte. Im gespenstischen Licht des herannahenden Gewitters wirkte die Feste bedrohlich und keineswegs einladend. Abweisend und dunkel zeichneten sich die Mauern der Trutzburg vor dem schwefelgelben Himmel ab. Gewiss, es wäre angenehmer, das Unwetter unter einem festen Dach und an einem prasselnden Kaminfeuer auszusitzen. Doch was war schlimmer? Hier im Freien auszuharren und bis auf die Haut nass zu werden, vielleicht sogar von einem Blitz erschlagen zu werden, oder Schutz zu suchen auf einer Burg, deren Herr womöglich ein Raubritter war oder mit
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