Die Pilgerin von Montserrat
Teresa.
Die Wirtin nickte und eilte davon. Der Mistral blies mit aller Wucht gegen die Fensterläden, ließ sie klappern und quietschen.
»Von den Niederungen oder Gipfeln der Kochkunst sollten wir zum Historischen kommen«, sagte Froben und nahm einen Schluck Wasser aus seinem Becher. »Wisst ihr, wie Francesco Petrarca dazu kam, diesen Berg zu besteigen?« Teresa und Markus verneinten. Teresa wollte ihrem Vater gern die Gelegenheit geben, sein Wissen anzubringen. »Petrarca wurde anno 1304 in Arezzo geboren und starb 1374 in Arqua bei Padua. Er kam mit sechs Jahren nach Avignon, studierte in Montpellier und Bologna Jura, später antike Literatur; gehörte von 1353 bis 1361 zum Mailänder Hof der Visconti und lebte ab 1362 in Venedig. Er hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Humanismus.«
Teresa wurde ungeduldig. Die Lebensdaten des Dichters interessierten sie weniger.
»Und wie kam er dazu, auf den Mont Ventoux zu steigen?«
Froben hatte sein Mahl beendet und schob die Suppenschüssel zurück. »Petrarca verabscheute das Leben der Päpste in Avignon und prangerte es als ›Babylon‹ an. 1336 schildert er die Besteigung des Mont Ventoux in einem Brief. Kein vernünftiger Mensch stieg damals auf solch einen Berg, lediglich aus dem Verlangen, die Aussicht zu genießen und sich in der Natur zu ergehen. Der Berg war einsam und wild, ein Ort der Anfechtung und der Gefahr. Petrarca beschreibt, wie ihn der außergewöhnliche Blick vom Gipfel fasziniert, die Sicht auf die schneebedeckten Alpen, die Rhone, die Bucht von Marseille. Er hatte ein Büchlein dabei, das in einer Faust Platz hat – Augustinus’ ›Bekenntnisse‹, in denen dieser beschreibt, wie er sich für das christlich tugendhafte Leben entscheidet. In den ›Confessiones‹ fällt Petrarca, während ihm der Wind um die Naseweht, die Beschreibung des Menschen ins Auge, wie er ›die Gipfel der Berge‹ bestaunt, ›die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans‹, und doch nicht ›acht hat seiner selbst‹. Petrarca hatte seine Fehler als Teil seiner Natur verstanden, vor allem die Wankelmütigkeit, den Stolz, die Ruhmsucht. Aber auf dem Gipfel dieser Einsicht tritt ihm doch wieder die Wertlosigkeit solcher Erkenntnis vor Augen, wenn wir nicht wissen, wozu wir geboren sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.«
Teresa fühlte sich tief berührt. Solche Gedanken waren ihr auch schon häufig durch den Kopf gegangen. Ist diese Reise nicht nur für mich, sondern für uns drei der Weg zu uns selbst? Was hat der Kandelaber damit zu tun? Bin ich ruhmsüchtig, wankelmütig, stolz und raffgierig? Was treibt meinen Vater an, was meinen Freund Markus?
»Wisst ihr eigentlich noch, warum wir so angestrengt, ja besessen nach diesem … äh … Stück suchen?«, fragte sie leise.
»Mein Interesse ist ein rein wissenschaftliches«, entgegnete Froben ebenso leise. An den Nebentischen wurde gelacht, gegessen und getrunken. Niemand schaute herüber.
»Ich bin es meinen Vorfahren schuldig, das, was sie mir hinterlassen haben, auf die Burg der Ahnen zurückzubringen, wo es hingehört.«
»Hast du nicht darüber hinaus so ein kleines Gelüste nach dem, was das Stück verspricht?«, wollte Markus wissen.
»Wer hätte das nicht angesichts solcher Offenbarungen«, meinte Froben seufzend.
»Und du, Teresa?«, wandte sich Markus an sie.
»Ich wollte immer schon über den Tellerrand hinausschauen«, antwortete sie.
»Na, über diesen Tellerrand hinauszuschauen habe ich dich doch die ganze Zeit gelehrt«, warf ihr Vater ein.
»Ich meine«, sagte sie und verspeiste das letzte Stück der Lammkeule, »dass ich die Welt nicht nur aus Büchern, sondern aus eigener Anschauung kennenlernen will. Ich will wissen, wie dieMenschen leben, was sie tun und warum sie es tun. Was ich tue und warum ich es mache.«
Die beiden Männer sahen sie mit großen Augen an. Die Wirtin trat aus der Küche und winkte Teresa zu sich. Eigentlich passte es Teresa gerade jetzt nicht, aber sie stand auf und ging hinüber.
»Ich will Euch das Rezept der Gigot d’Agneau verraten«, sagte die Wirtin mit Verschwörerblick. »Ihr nehmt eine Lammkeule und befreit sie von Haut und Fett. Dann löst Ihr den Knochen mit einem scharfen Messer aus dem Fleisch. In einem großen gusseisernen Topf erhitzt Ihr etwas Olivenöl; Haut, Fett und Knochen darin kräftig anrösten.«
Die Worte der Frau drangen nicht in ihr Bewusstsein. Teresa war in Gedanken woanders, aber sie nickte ergeben und
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