Die Pilgerin von Montserrat
diese nördlichen Provinzen wieder christlich. Während dieser Periode lebten Christen, Juden und Muslime friedlich miteinander, weil sie sich gegenseitig Toleranz und Achtung entgegenbrachten. 1212 wurden die Mauren von den Truppen König Alfons VIII. aus Zentralspanien vertrieben. Das Königreich Granada, das noch maurisch war, gedieh trotzdem weitere dreihundert Jahre, und es brachte architektonische Meisterleistungen hervor wie die Alhambra. Am 2. Januar 1492 war das zu Ende: Boabdil, der letzte Führer der islamischen Hochburg, wurde von dem Heer des christlichen Spanien besiegt. Die Muslime und auch die spanischenJuden mussten im Zuge der Reconquista Spanien verlassen oder zum Christentum konvertieren.«
»Wie konnte das jahrhundertlang gutgehen und dann plötzlich nicht mehr?«
Froben rollte mit den Augen und hob die Hände. »Frag mich etwas Leichteres! Die Wege Gottes, Allahs und Jahwes sind unergründlich.«
»Aber Jahwe, Gott und Allah haben das doch gar nicht gemacht, es waren die Menschen!«
Sie bogen in die Rue des Orfèvres ein und gelangten durch die Rue des Drouineurs zum Fluss. An seinem Ufer, das mit Oleander bestanden war, führte ein befestigter Weg aus der Stadt hinaus. Vor ihnen lag das Panorama der Cevennen.
»Die Religionen haben viel mehr Gemeinsamkeiten, als ihre Vertreter es sich zugestehen wollen«, meinte Froben, »insbesondere zwischen den drei abrahamitischen, monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, die sich alle auf ihre Weise aus den biblischen Traditionen herleiten. Gleichwohl müssen wir sehen, dass die Gegensätze dieser Religionen viel grundlegender sind als die Gemeinsamkeiten. Es wird darum gestritten, ob beim heiligen Abendmahl Blut und Leib des Herrn Jesus Christus anwesend sind oder es nur symbolisiert ist. Ob Maria, Jesus’ Mutter, angebetet werden soll. Mohammed ist für die Muslims der letzte der Propheten, und er predigte nichts grundsätzlich anderes als Christus.«
Froben hielt inne, blieb stehen und drehte sich um. Teresa wandte sich ebenfalls um und sah die weite Ebene des Rhônedeltas vor sich, dahinter, bis zum Horizont, das Meer.
»Ich möchte dich aber nun nicht länger mit diesen Ausführungen belasten, Teresa. Reden wir von uns, von unseren Plänen. Mir ist es schon aufgefallen, dass du unter dem Weggang von Markus leidest.«
Ihr Vater kannte sie besser, als sie gedacht hätte. Ob er froh oder traurig darüber war?
»Wir sind zu dritt gereist und wollten zusammen den Kandelabersuchen und finden«, sagte sie. »Ja, ich vermisse Markus. Ständig denke ich, er sei nur ein kleines Stück Weges vor oder hinter uns, drehe mich um oder schaue voraus – und er ist nicht da.«
»Liebst du ihn?«
»Ich weiß nicht, was Liebe ist. Wenn er nicht an meiner Seite ist, fühle ich mich … unvollständig. Oder einsam. Du weißt ja, dass ich nicht heiraten will.«
»Diese Frage wird sich zwischen dir und Markus auch sicher nicht stellen. Er hat ein Gelübde abgelegt.«
»Darum geht es auch gar nicht. Ich bin traurig, dass er fort ist.«
»Du hast selbst dazu beigetragen.«
»Weil er uns daran hindern wollte, unsere Reise fortzusetzen.«
»So ganz unrecht hat Markus nicht gehabt«, meinte Froben. »Es ist gefährlich, diese Wallfahrt – oder wie auch immer wir es nennen mögen – fortzusetzen. Aber wir haben keine Wahl. Ich habe es mir versprochen, habe es dir versprochen und mache es im Gedenken an Friedrich und Albrecht, unsere Vorfahren. Und an das deiner Mutter, meiner tiefst und innigst geliebten Frau.«
»Wenn ich sie doch bloß einmal noch sehen könnte …«, sagte Teresa versonnen.
»Wer weiß, möglicherweise hat der Kandelaber auch die Macht, mit den Verstorbenen in Verbindung zu kommen«, antwortete ihr Vater.
Das Bild ihrer Mutter trat vor Teresas inneres Auge. Sie hatte sich über sie gebeugt, wenn Teresa vor dem Einschlafen Angst hatte oder wenn sie krank war. Sie ordnete alles mit liebevoller Hand.
»Wie wird unser Weg weiter verlaufen?«, fragte Teresa.
»Der Jakobsweg führt von hier über Bédarieux, Ste. Pont, Mazamet, Toulouse und Puente la Reina ins Spanische hinüber, bis nach Santiago de Compostela.«
»Das sind so viele Meilen, dass wir vor dem nächsten Frühjahr gar nicht ankommen werden. Und das im Winter, bei diesen Temperaturen!«
»Du musst dich entscheiden. Willst du weitergehen, willst dudem Mann, der dir so viel bedeutet, nachgehen oder umkehren?«
»Keins von beiden. Am liebsten würde ich alles
Weitere Kostenlose Bücher