Die Pilgerin von Montserrat
Reise zunächst einmal fortzusetzen. Dass er und Teresa das gleiche Ziel hatten, dessen war er sich sicher. Froben war als Gelehrter gewiss von dem Wunsch beseelt, das Familienerbstück zurück nach Hause zu bringen. Markus schaute sich um: Das Vorgebirge verschwamm im Dunst des Abends, dahinter ragte steil das Massiv der Cevennen auf. Das Dorf Bédarieux war auf der langgestreckten Kuppe eines Hügels erbaut. Die ersten Lichter blitzten ihm von dort entgegen. Müde von den Anstrengungen des Tages, vom Wind und von seinen Gedanken, die den ganzen Tag in die gleiche Richtung gegangen waren, stieg er vor einer kleinen Herberge ab, einer Schilderwirtschaft, und erhielt ein Bett für die Nacht.
Er schlief unruhig und träumte, er sei unterwegs nach Santiago. Die ganze Zeit war er sicher gewesen, dass die Frau an seiner Seite ihn begleite, doch mit einem Mal war sie fort. Wo auch immer er sie suchte, in den Tälern und auf den Höhen, in Höhlen, Klöstern, Burgen, Dörfern und Städten – sie war wie vom Erdboden verschwunden. Schließlich fand er sie in einem Verlies, gefesselt und von der Folter entstellt.
Mit einem Schrei fuhr er hoch und fand sich im ersten Augenblick nicht zurecht. Wo war er? Dann fiel es ihm wieder ein. Er war allein, auf dem Weg zu einem Ziel, von dem er vor einigen Wochen noch nicht einmal geträumt hatte. Er nahm ein Frühstück zu sich, ließ sich sein Pferd bringen und ritt gedankenverloren durch die bewaldeten Berge, die mit schroffen Kalksteinfelsen durchsetzt waren.
Als Markus abends Mazamet erreichte mit seinen grauen Steinhäusern und der gedrungenen Kirche, hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde umkehren und den beiden Vermissten entgegenreiten. Doch wenn sie einen ganz anderen Weg genommen hatten? Markus beschloss, am nächsten Tag den Priester des Dorfes aufzusuchen und ihn um Rat zu fragen. Wieder wurde er in der Nacht von Träumen heimgesucht: Er hatte Teresa gefunden. Sie stand vor seinem Bett, und er zog sie zu sich herunter, auf seine harte Männlichkeit. Ein ungeheures Glück erfüllte ihn, während sie sich vereinigten.
Nachdem er erwacht war, gestand er sich ein, dass er Teresa schon oft in Gedanken ausgezogen und sie berührt hatte. Die alte Kirche von Mazamet stand etwas erhöht auf einem Hügel. Sie war umgeben von einer dicken Mauer und einem Friedhof, dessen Stein- und Eisenkreuze stellenweise im Boden versunken waren. Buchsbäume verstreuten einen würzigen Duft, Mauern und Kirchwände waren von Efeu überwuchert. Den düsteren Innenraum hatte man spartanisch ausgestattet, was Markus daran erinnerte, dass es ein protestantischer Ort war. Auch der Geruch nach Weihrauch fehlte. Père Frontier, nach dem er sich durchgefragt hatte, hielt sich in derSakristei seiner Kirche auf. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit wieselflinken Augen und einem schwarzen Schnauzbart.
»Was führt dich zu mir, mein Sohn?«, fragte er.
»Ich möchte Euch etwas fragen, mon père . Viel lieber noch möchte ich beichten, doch das gibt es bei Euch sicher nicht mehr.«
»Wenn jemanden aus meiner Gemeinde oder auch einen Fremden etwas bedrückt, so kann er damit gern zu mir kommen. Setzt Euch auf einen der Kirchenstühle.«
Markus tat, wie ihm geheißen, und Père Frontier nahm auf einem Stuhl der nächsten Reihe Platz.
»Ihr braucht mich nicht anzuschauen, wenn Ihr mir über das erzählt, was Euch Sorgen macht«, sagte er.
Die Traditionen lebten also doch fort. Leise begann Markus zu erzählen.
»Ich liebe ein Mädchen, Père, und ich habe in Träumen und Gedanken unkeusche Sachen mit ihr getan. Wenn Ihr mir schon keine Absolution erteilen könnt, was ratet Ihr mir zu tun?«
»Hast du sie in Wirklichkeit angefasst oder etwas Unkeusches mit ihr getan?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich bin an mein Gelübde gebunden, und das heißt für mich, enthaltsam zu sein in Taten und Gedanken.«
»Du bist frei von Sünde, mein Sohn. Bete morgens und abends zweimal das Vaterunser, falls du es nicht schon ohnehin tust. Wo ist dieses Mädchen jetzt?« Der Pfarrer drehte sich um und schaute Markus ins Gesicht.
»Das ist ja das Schwierige: Ich weiß es nicht. Wir haben uns in Avignon nach einem Streit getrennt. Vorher sind wir überfallen worden, wobei ein unschuldiger Eremit getötet wurde.«
»Warum wurde er getötet? Warum wurdet ihr verfolgt?«
»Wir suchen einen Wertgegenstand, einen uralten Kandelaber, der im Familienbesitz des Mädchens und ihres Vaters war. Der Eremit sprach das Wort
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