Die Pilgerin von Montserrat
der Junge ihr den Weg hierher gewiesen hatte. Oder hatte er das gar nicht getan? War seine Kopfbewegung nicht verneinend gewesen?
Teresa wurde unruhig. Die beiden erreichten das päpstliche Schlafzimmer, das mit buntglasierten Fliesen ausgelegt war. Die Wände waren bemalt mit Eichenlaub und Weinranken, Vögeln, Mardern, Eichhörnchen, Eisvögeln und Elstern. Auch zwei Käfige waren an der Wand dargebracht, die offen standen. Die Seele, die den Körper verlassen hat – das war ein kirchliches Symbol für Tod und Auferstehung. Besser gefallen hätte ihr: Die Vögel sind frei!
Mit zunehmender Beklemmung folgte Teresa ihrem Vater ins Hirschzimmer im Neuen Palast Clemens VI. Hier zeigten die Wandmalereien das Aufstellen von Fallen, einen Knaben, der ein Nest ausnimmt, eine Hasenjagd, ein etwas schief ausgerichtetes Fischbassin und zwei Männer; einer warf ein Netz aus, der andere hielt eine Angelrute ins Wasser. Es war eine Falle! Der Junge wollte sie warnen. Die Bilder gaben ihr die Antwort: Sie waren in eine Falle geraten, und gleich würde die Jagd beginnen. Das Netz war ausgeworfen, die Angel gelegt , und sie waren ihnen ins Netz gegangen!
»Wir müssen hier raus!«, rief Teresa ihrem Vater zu und begann zu laufen.
»Was ist denn mit dir?«, hörte sie Froben antworten. »Siehst du wieder Gespenster?«
Teresa drehte sich kurz um. »Lauf, wenn dir dein Leben lieb ist!«
In rasender Eile durchquerte Teresa zwei Säle, in der Gewissheit, dass ihr Vater ihr folgen würde. Dann hörte sie Frobens Schritte nicht mehr. Sie stand am Eingang des Speisesaals und sah sich nach einem Versteck um. Die Küche! Da musste es doch irgendeinen Winkel geben. Sie erreichte den kleinen Raum. In einer Ecke stand eine eisenbeschlagene Truhe. Gott sei Dank ließ sich der Deckel heben, und Teresa schlüpfte hinein. Eine Zeitlang hörte sie nur ihren Atem, spürte das Klopfen ihres Herzens, roch das Holz ihrer unfreiwilligenBehausung. Noch nie hatte sie so gespannt auf Geräusche von draußen gelauscht wie jetzt. Warum war sie nur hier hereingegangen? Und was, wenn sie sich täuschte, wenn alles nur Einbildung war? Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sich noch weitere Menschen in diesem Gebäude befanden. Da war doch noch etwas. Markus – was hatte er gesagt? Er gehe nach Santiago de Compostela, allein? Sie würden ins Verderben rennen? O heilige Jungfrau, was habe ich getan! Ich habe ihn von meiner Seite gestoßen.
Teresa glaubte, Schritte zu hören, und machte sich ganz klein. Vielleicht war es ihr Vater, der nach ihr suchte. Aber warum rief er nicht nach ihr? Die Schritte kamen näher, hielten direkt vor der Truhe an. Langsam hob sich der Deckel. Teresa blickte angstvoll auf, blinzelte ins Licht. Über ihr war ein Kopf mit Kapuze, das Gesicht lag im Schatten. Zwei kräftige Hände packten sie und zogen sie heraus. Vor ihr stand ein Mann in einer grauen Mönchskutte. Vor Mund und Nase hatte er ein Tuch gebunden. Er stellte sie unsanft auf die Füße und fragte mit belegter Stimme: »Was hat der alte Eremit gesagt, bevor er hinüberging?«
Teresa schluckte. Dann war es also doch …
»Wo ist mein Vater?«, fragte sie.
»Ich bin es, der hier die Fragen stellt! Antworte!«
»Er sagte ein spanisches Wort, etwas von einem Berg.«
»Was noch?«
»Nichts.«
»Eigentlich sollte ich dich in die Truhe stecken und sie zunageln. Hier im Palast würde dich kein Schwein hören. Aber du bist jung und unerfahren, daher lasse ich dich laufen.«
Mit diesen Worten drehte der Mann in der Mönchskutte sich um und verschwand zusammen mit einem zweiten Mann im grauen Gewand, der zwischenzeitlich an der Tür aufgetaucht war. Teresa atmete auf. Man ließ sie laufen? Mit zittrigen Knien ging sie durch die Räume, die sie kurz zuvor mit ihrem Vater durchwandert hatte. An jeder Ecke zuckte sie zusammen, in Erwartung einer Schreckensgestalt.Im Portal kam ihr Froben entgegen. Schluchzend sank Teresa ihm in die Arme.
»Was war denn, meine Kleine?«, fragte er und strich ihr übers Haar.
»Ich habe mich … in einer Kiste versteckt«, presste sie unter Tränen hervor. »Dann kam ein Mann und hat den Deckel aufgemacht. Es war einer der Reiter. Er hat mich gefragt …«
»Was gefragt?«
»Welche Worte der Eremit gesagt hat, bevor er starb.«
»Hast du es ihm mitgeteilt?«
»Ich habe ausweichend geantwortet.«
Einen Atemzug lang glaubte Teresa, ihr Vater könnte mit den Reitern unter einer Decke stecken.
»Wo warst du die ganze Zeit?«, fragte
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