Die Pilgerin von Montserrat
ein. Er hatte sehr große Angst um sie gehabt. Wie leicht hätte sie bei ihrem Irrweg abstürzen können! Jetzt war er in einer ähnlichen Lage. Er sah keinen Weg mehr vor sich, musste sich der Führung durch das Pferd überlassen. Warum hatte er diesen Weg eingeschlagen? Wäre es nicht besser gewesen, nach Hause zurückzukehren? Oder diese Reise erst gar nicht anzutreten? Er fühlte sich dumpf und ausgehöhlt. Aber es gab einen Grund weiterzumachen, und der hatte ihn von Anfang an bestärkt und vorangetrieben. Er war auf dem Weg zu der Frau, die er liebte und die er beschützen musste, auch vor sich selbst, vor ihrer starken inneren Kraft, die sich allmählich zur Besessenheit entwickelt hatte.
Mit dem Kopf auf dem Hals des Tieres ließ er sich willenlos dahintragen. Nur das Schnauben und das Knirschen der Hufe drangen an seine Ohren. Das Kloster Agenbach fiel ihm ein, seine Zeit des Noviziats, in der er durch den Benediktinerorden geprüft wurde, ob er die Gelübde der Armut, des Zölibats und des Gehorsamsablegen könne und ob er die Fähigkeiten habe, in diesem Orden zu leben. Darüber hinaus musste er seine vor Gott, dem eigenen Gewissen und den Oberen verantwortete Entscheidung für den Profess, der Ernennung zum Mönch, prüfen. Er hatte sich lange und sorgsam geprüft und war zu der Entscheidung gelangt, dass er zum Mönch berufen war. Aber war es auch wirklich seine eigene Entscheidung gewesen? Hatten nicht seine Eltern, die als Bauern in der Umgebung von Agenbach ein eher kümmerliches Leben fristeten, ihn beschworen, ins Kloster einzutreten?
Die Tage seiner Kindheit fielen ihm ein. Jeden Morgen nach einer Nacht, die er zusammen mit seinen beiden Brüdern in einem Strohbett verbrachte, bei dem im Winter die Decke am Bettpfosten festfror, war er aufgestanden, hatte sich kurz im Hof im Brunnen das Gesicht gewaschen, und dann musste er in den Stall, zusammen mit der Mutter die Kühe melken, Stroh aufschütten, den Schweinestall misten, im Sommer das Vieh auf die Weide treiben oder Holz im Wald sammeln. Wie froh war er gewesen, als der Pfarrer des Ortes eines Sonntags zu ihnen in die Stube kam, in der ein Feuer im Kamin prasselte und die Familie um den Tisch herum saß, mit einem Topf Gemüsesuppe in der Mitte, in die alle ihre Löffel tunkten. Markus sei ein kluger Kopf, das habe er im Gespräch mit ihm bemerkt, sagte der Pfarrer. Er bot seinen Eltern an, ihn in die Lateinschule des Klosters zu schicken mit der Aussicht, Novize und später einmal Mönch zu werden. Er brauche ihn aber auf dem Hof, hatte der Vater geschimpft, er brauche jede Hand, damit die Familie überleben könne. Er werde etwas aus den Pfründen des Klosters bereitstellen, beruhigte ihn der Pfarrer. Und so war Markus Lateinschüler geworden, und er musste sich fortan dem Gebet und der Arbeit hingeben.
Oft vermisste er sein früheres Leben, zwar nicht die Plackerei auf dem Hof und auf dem Feld, aber die wenigen Mußestunden an den Sonntagen, nach dem Kirchgang, die er mit den Kindern des Dorfes zugebracht hatte. Manchmal waren sie im Winter mit Holzschlitten einen Berg hinuntergerodelt und dabei absichtlich mit denSchlitten der Mädchen zusammengestoßen, so dass alle lustig durcheinanderpurzelten. Besonders ein blondes Mädchen mit Zöpfen hatte es ihm angetan, die Tochter des Apothekers. Im Sommer, an heißen Tagen, badeten sie im klaren, kalten Wasser der Kinzig und kamen abends müde und glücklich nach Hause. Mit diesem Kind, das er einmal war, hätte er jetzt tauschen mögen.
Später, als er schon Novize war, trat ein kleiner, blonder Junge in die Lateinschule ein, Matthias, den er mit der Zeit sehr lieb gewann, weil er hilfsbereit und freundlich war und ihn immer so verschmitzt anschaute, wenn er am Fenster der Lateinschule vorüberging. Seine Herkunft war unbekannt, es hieß, er sei von einem Kräuterweib an der Pforte abgegeben worden. In jenen Tagen hatten sie auch viel mit Moshe Seraim, dem Rabbi der jüdischen Gemeinde, zu tun gehabt. Oft hatten die Kinder im Kreis um ihn herumgesessen, wenn er ihnen Geschichten aus dem Talmud vorlas. Sie waren denen der Bibel gar nicht so unähnlich gewesen.
Markus schreckte hoch. Fast hätte er vergessen, in welcher Lage er sich befand. Das Pferd ging jetzt im Schritt abwärts, vorsichtig Huf vor Huf setzend. Der Wind heulte in den Felsen und trieb den Schnee vor sich her. Nach einer endlosen Zeit erreichten sie ein kleines Gehöft, aus den gelblichen Steinen des Landes erbaut und mit einem
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