Die Pilgerin von Montserrat
»Ich hoffe unter anderem, dadurch wieder in Verbindung mit meiner geliebten Mutter zu kommen.«
Montaña räusperte sich. »Nachdem ich Euch kennengelernt und mit Euch gesprochen habe, denke ich auch, dass dieses Erbstück in den Händen eines Gelehrten und seiner nicht minder klugen Tochter am besten aufgehoben wäre. Ich gebe Euch meinen Segen für die Suche.«
»Doch wo sollen wir die Menora – ich nenne sie jetzt einfach mal so – denn suchen?« Froben hatte die Stirn gerunzelt. »Hier scheint sie auf jeden Fall nicht zu sein.«
»Ich schätze«, meinte Montaña, »dass sie gar nicht ins Heilige Römische Reich gebracht worden ist. Es gibt keine Zeugen. Auch die Mönche des Jahres 1099 haben sie nicht gesehen; sie sollte sich auf einem Karren am Fuß des Berges befinden.«
»Aber was bezweckte Friedrich dann mit seinen Behauptungen?«, wollte Teresa wissen.
»Ich kann mir nur vorstellen, dass er seine Gegner irreführen wollte und dass sich die Menora noch im Heiligen Land befindet.«
Am folgenden Morgen waren das Kloster und die Berge wieder in dichten Nebel gehüllt. Über den Bergspitzen, die nur als schemenhafte Umrisse zu sehen waren, lag ein bläulicher Schimmer. Teresa beschloss, das relativ trockene Wetter zu nutzen und einen dieserGipfel zu besteigen. Sie zog feste Schuhe an, nahm ihren Mantel und folgte, ohne jemandem Bescheid zu sagen, dem Pfad, den sie am Vortag mit ihrem Vater hinaufgestiegen war. Von dem Punkt aus, an dem sie umgekehrt waren, beschritt sie einen Weg, der sich zwischen Felsen und Steineichen hindurchschlängelte. Gespenstisch standen die Bäume und Büsche am Wegesrand. Teresa hörte keinen Laut eines Vogels, keine Menschenstimme. Sie fühlte sich sehr allein. Aber das hatte sie sich selber zuzuschreiben. Sie wollte auf diesen Gipfel gelangen, ohne jede Begleitung. Dass Einsamkeit wie Glas sein konnte, so klar und kalt, aber auch befreiend, hatte sie bisher noch nicht erfahren. Sie wollte diese Erfahrung machen und sehen, ob sie zu irgendeiner Erkenntnis gelangte.
Schließlich erreichte sie eine Kapelle und zwei kleinere sakrale Bauten in Felsenhöhlen. Weiter oben kam sie an einen Punkt, von dem aus sie im Nebel die Silhouetten der Agulles sehen konnte, eines Gesteinsblockes, der geformt war wie eine riesige Orgel. Weiter ging es, zwischen Wald und Abgrund, auf den nächsten Gipfel, Sant Jeroni. Viele weitere Eremitagen, zum Teil aus sehr altem Gestein, tauchten auf. Ein leichter Wind war aufgekommen, der in die Spalten der Steine pfiff und den Nebel zu zerteilen begann. Dann stand sie auf dem höchsten Gipfel des Massivs. Trotz der kühlen Luft lief ihr der Schweiß in Strömen herab. Über ihr war der Himmel blau und klar.
Teresa drehte sich langsam um sich selbst. Das Kloster weit unten war von einer weißen Nebelmasse bedeckt, ebenso das ganze Land und die Berge der Pyrenäen. Einzelne Bergspitzen ragten dunkel hervor. Wie schon am Vortag überkam sie ein Gefühl tiefen Friedens. Dort im Westen verlief der Weg nach Santiago. Wie weit Markus wohl schon gekommen war? Wanderte er jetzt, genauso einsam wie sie, über irgendeinen Pass, vielleicht über den von Roncevalles? Oder hatte er sich einer Pilgergruppe angeschlossen, vielleicht sogar einer Pilgerin? Ein unbestimmtes Gefühl ergriff sie, das ihr im Innersten wehtat, und der Wunsch, mit ihm gemeinsam unterwegs zu sein, wurde fast übermächtig. Nein, dies war nicht derGipfel, von dem Petrarca gesprochen hatte. Sie würde noch weit gehen müssen, um dorthin zu gelangen.
Markus hatte das Gebiet um den Montségur verlassen und befand sich auf dem Weg zum Col de Puymorens, einem sehr hohen Pass. Endlos ging es in Serpentinen bergan. Je höher er hinaufkam, desto mehr wich der Wald aus Steineichen und Kiefern zurück und machte der Macchia Platz, die schließlich von Moosen und Flechten abgelöst wurde. Es begann zu schneien. Auf dem Pass, der schon tief verschneit war, hielt er an. Er hatte erwartet, einen Überblick über die Gegend, die Berge und den weiteren Weg zu bekommen, doch er sah gar nichts. Alles war von Schnee und Nebel verschluckt. Mühsam kämpfte sich sein Pferd voran, derweil er selbst das Gesicht immer wieder in die Mähne des Tieres drücken musste, weil ihm Graupeln wie Eisnadeln ins Gesicht flogen. Der Nebel stand wie eine dicke Suppe vor seinen Augen.
Er war allein, niemand wagte anscheinend in dieser Zeit die Überquerung des Passes. Der Tag, an dem Teresa sich im Schnee verirrt hatte, fiel ihm
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