Die Pilgerin von Montserrat
Jeroni hinunterzusteigen. Es begann zu schneien. Beim Abstieg über rutschige Steine merkte sie, dass der Wind stärker wurde. Eine halbe Stunde später heulte der Sturm um die großen Felsgebilde, die überall am Weg standen. Wenn sie sich bloß nicht noch einmal verirrte! Wie gefährlich das in den Bergen war, hatte sie ja erlebt. Aber sie sah, durch Schnee und Wind hindurch, die Ebene des Llobregat unter sich liegen, und irgendwo auf der Höhe musste sich das Kloster befinden.
Vorbei an Bäumen und Büschen, die vom Wind gebeutelt wurden, erreichte sie die Eremitagen. Nun konnte nichts mehr passieren. Eine weitere halbe Stunde später traf sie völlig durchnässt und durchfroren im Kloster ein. Froben, der soeben aus der Bibliothek kam und zu seiner Zelle hinübergehen wollte, blickte ihr erstaunt entgegen.
»Wo kommst du denn her?«, fragte er kopfschüttelnd. »Ich habe dich schon überall gesucht. Ich dachte, du wärst spazierengegangen. Die Berge sind nicht für einen Spaziergang gemacht!«
»Das habe ich gemerkt«, entgegnete Teresa kleinlaut. »Es war mir einfach wichtig, auf den Gipfel des Sant Jeroni zu klettern und die Aussicht zu genießen.«
»Na, so arg wird es nicht gewesen sein mit dem Genuss«, meinte ihr Vater. »Jetzt aber schnell ins Trockene!«
Teresa folgte ihrem Vater in dessen Zelle. Er gab ihr ein großes Handtuch, und sie verschwand in Richtung ihrer momentanen Behausung. Bald waren ihre Haare trocken. Sie zog sich frische Kleidung an.
Am Abend saß sie zusammen mit Froben und Bruder Gabriel in der Bibliothek. Er wolle noch etwas mit ihnen besprechen, bevor die Glocke zur Komplet und damit zur Nachtruhe rief. Bruder Gabriel wandte sich an Froben.
»Ich habe mir Gedanken über Eure Familiengeschichte gemacht«, sagte er. »Wenn Friedrich von Wildenbergs Sohn die Stammesgeschichte fortgesetzt hat, erklärt sich die Tatsache, dass Eure Familie nicht ausgestorben ist. Wie sieht es denn bei Euch selber aus? Habt Ihr einen Sohn?«
Froben seufzte und warf Teresa einen entschuldigenden Blick zu. »Ein Sohn ist mir leider versagt geblieben. Meine Frau starb ziemlich jung an der Cholera, bis dahin hatte sie mir zwei Mädchen geboren, die ich über alles liebe. Aber um die Familie vor dem Aussterben zu bewahren, hätte ich mir eine Frau im gebärfähigen Alter suchen müssen.«
»Warum habt Ihr es nicht getan?«
»Die Trauer um meine Gattin sowie die Arbeit mit der Chronik haben mir keine Zeit gelassen«, antwortete Froben.
Die Glocke läutete zum Komplet, und jeder von ihnen begab sich auf seine Zelle. Die ganze Nacht heulte der Sturm um das Kloster. Teresa träumte von einem Säugling mit blondem Flaum auf dem Kopf. Das Kind schaute sie an und lächelte. Ihre Mutter beugte sich über das Kleine und nahm es in die Arme. Gleich darauf war das Kind verschwunden.
Anderntags bat Teresa ihren Vater, mit ihr ins Parlatorium zu gehen. Sie durchstreifte den Raum mit schnellen Schritten, während Froben ruhig dastand, die Hände auf den Rücken gelegt.
»Ich habe von Mutter geträumt«, stieß sie hervor. »Sie hatte ein kleines, blondes Kind bei sich.«
»Das war sicher deine Schwester Barbara«, meinte Froben, »sie wurde zwei Jahre nach dir geboren.«
»Aber sie ist nicht blond, sie hat dunkle Haare.«
»Du könntest auch von dir selbst geträumt haben. Außerdemwird die wahre Haarfarbe bei Kindern erst später sichtbar – ebenso wie die Farbe der Augen.«
»Das war nicht der einzige Grund, warum ich dich hergebeten habe«, fuhr Teresa fort. »Ich möchte mit dir besprechen, wie es weitergehen soll.«
»Nun ja, wir haben leider noch immer keinen einzigen Anhaltspunkt. Der Kandelaber wurde möglicherweise gar nicht in den Schwarzwald gebracht.«
»Sondern ist in Jerusalem geblieben? Dann müssen wir dorthin.«
»Was denkst du dir, Teresa! Der Winter steht vor der Tür. Wie willst du denn nach Jerusalem gelangen?«
»Mit einem Schiff, von Barcelona aus, so wie es auch Friedrich getan hat.«
Froben wiegte bedenklich den Kopf. »Die Winterstürme auf dem Mittelmeer sind gefährlich! Wir müssten erst einmal ein Schiff finden, das in dieser Zeit hinüberfährt. Meine Golddukaten würden zwar dafür ausreichen, aber ich finde, so etwas macht nur jemand, der von einer Idee vollkommen besessen ist.«
»Dann bin ich halt besessen! Viele Dinge der Weltgeschichte wären nicht geschehen, vieles wäre nicht erfunden worden, manche Bücher wären nicht geschrieben worden, wenn derjenige nicht von
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