Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
dringlichstes Anliegen: Wie sollte er in dieser Masse den Grafen von Baerheim finden? Zwar waren die Zelte des Herzogs von Bouillon, seiner Brüder Balduin von Boulogne und Eustachius und ihrer engsten Vertrauten aus dem Hochadel weithin sichtbar, jedoch war es ausgeschlossen, in diesem Gedränge, Gewirre, dieser Unüberschaubarkeit jemanden ohne langes Suchen ausfindig zu machen, dazu waren es zu viele Ritter.
»Na, denn los«, sagte er und zog die Zügel an. Schweigend fuhren sie in die Ebene hinab, gefolgt von den beiden Soldaten, die sich leise unterhielten.
Alice spähte aufgeregt nach vorn, um möglichst viel und alles möglichst genau zu überblicken: Zelte, Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen und Hühner, Planwagen, Feuerstellen, Lagerplätze und vor allem Menschen, die umhergingen, kochten, miteinander den Kampf übten, spielten. Alice konnte die Tätigkeiten mehr erahnen als tatsächlich wahrnehmen.
Am Rande des Lagers hielten sie an. Von hier aus wollte der Vater sich allein auf die Suche nach dem Grafen von Baerheim und seinem Gefolge machen, dem auch Martin sich anschließen sollte, solange sein eigentlicher Herr noch nicht da war. Der Kaufmann band sein Pferd los und befahl, zu Alice gewandt: »Warte hier.« Den beiden Soldaten nahm er das Versprechen ab, auf den Wagen und das Geld aufzupassen und sich nicht fortzubewegen. Dann entfernte er sich rasch.
Alice fühlte sich verlassen. Sie saß auf dem Wagen wie in den letzten Tagen fast immer, dieses ewige Sitzen war ihr schon verleidet. Es war etwas öde hier am Rande des Lagers. Einige Pilger saßen um ein Feuer und kochten. Es war Fleisch, das nicht mehr ganz frisch war. Der süßliche Geruch verursachte ihr Übelkeit. Überhaupt waren die Menschen ärmlich angezogen. Vermutlich besaßen sie kaum mehr Kleidung als die, die sie auf dem Leibe trugen. Nur zwei Männer waren kostspielig gekleidet. Sie kamen aus der Richtung von einigen Frauen und Kindern, die weiter entfernt von Alice um ein Feuer auf dem Boden hockten oder, auf ihren Arm gestützt, am Boden lagerten.
Gegen Mittag wurde es immer drückender und stickiger im Wagen. Die Hitze lastete auf Alice, während sie unablässig nach ihrem Vater Ausschau hielt, der jedoch wahrscheinlich lange noch nicht wiederkommen würde.
So unabsehbar viele Pilger waren unterwegs, und dies war nur ein Teil der Kreuzfahrer. Die anderen Heere wollten den Weg von Italien aus über das Meer sowie über die östliche Adriaküste nach Konstantinopel nehmen, um sich dort zusammenzuschließen und gemeinsam nach Jerusalem zu ziehen. Noch mehr Menschen als diese, das war eine erdrückende Vorstellung.
Ach was, was dachte sie da. Es mussten schließlich viele sein, damit Jerusalem befreit werden konnte.
Sie aber fühlte sich keineswegs frei auf ihrem Wagen. Durch das Warten war sie wie gefesselt auf ihren Platz. Sie konnte nicht mehr sitzen. Es war wirklich unerträglich heiß. Alice überlegte, wenn sie sich nur ein Stückchen vom Wagen entfernte und etwas spazieren ginge, dann wäre ihr vielleicht nicht mehr so übel. Sie blickte sich um, in welche Richtung sie gehen wollte: Ins Lager hinein, da würde sie sich vielleicht verlaufen, den Weg zurück auf den Hügel, er schien ihr sehr einsam. Nach einigem Zögern entschied sich Alice, zu den Frauen und Kindern zu gehen. Das schien ihr das Sicherste, das Ungefährlichste zu sein. Wann hatte sie sich denn das letzte Mal mit einer Frau unterhalten? Ein kleiner Plausch wäre ganz nett, vielleicht konnte sie sich nach den Lebensbedingungen im Lager erkundigen.
Alice ging auf die Gruppe zu – und wurde von Kopf bis Fuß gemustert. Sie wünschte »got grueze euch«, der Gruß wurde nicht erwidert. Stattdessen fühlte sie abschätzende, feindliche Blicke. Etwas verdutzt stand Alice da und schaute zu den Frauen, als ein nicht schlecht gekleideter, korpulenter und fast zahnloser Mann sie von der Seite ansprach:
»Na? Schon dabei? Na, woll’n wir mal. Ich bin auch freundlich zu dir.«
Entsetzt lief Alice davon, im Rücken hörte sie das hämische Lachen der Frauen.
Nur zurück zum Wagen.
Der Vater war noch nicht wieder da. Und auch der ältere der beiden Soldaten war verschwunden und blieb ziemlich lange fort trotz seines dem Vater gegebenen Versprechens. Als er endlich wiederkam, grinste er seinen Kameraden an, murmelte zu Alice, er habe mal austreten müssen, und schickte sich an zu warten. Derweil wurde sein Kamerad immer unruhiger, blickte häufig zu Alice hinüber, als
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