Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Besitz verpfändet hatten, um Reichtümer in Jerusalem zu erbeuten, ließ kriegerischen Fantasien freien Lauf.
Daran änderte die Rückkehr des Herzogs Gottfried von Bouillon vom ungarischen Königshof zunächst wenig. Die Bedingung König Kolomans, Balduin von Boulogne, der Bruder Herzog Gottfrieds, solle sich, seine Gemahlin und sein ganzes Gefolge als Geisel stellen, erboste nicht nur ihn, sondern das gesamte Heer vom Hochadel bis zum Fußsoldaten und bis zu den Knechten, Wäscherinnen und Prostituierten. Vor allem aber Balduin weigerte sich. Groß, kalt mit seiner ungewöhnlich weißen Haut, die einen sonderbaren Gegensatz zu seinem schwarzen Haar bildete, verließ Balduin das Zelt seines Bruders, der ihm, fast ebenso groß und hünenhaft wie er, nachlief. Man verlor Zeit, doch endlich – für Alice endlich, denn sie litt unter der Kampfeslust der Männer und es war ihr unbegreiflich, dass Christen gegen Christen kämpfen wollten – ritten eines Morgens Herolde durch das Lager, die in vielen Sprachen den Pilgern verkündeten, dass sie noch am selben Tag auf der Brücke über die Sümpfe die Grenze nach Ungarn überschreiten würden. König Koloman verspreche, die Kreuzfahrer mit allem Lebensnotwendigen zu günstigen Preisen zu versorgen.
Die Herolde warnten:
»Jede gewalttätige Ausschreitung, jeder Diebstahl wird mit dem Tode bestraft!«
Der Weg durch Ungarn war frei, allerdings nicht ganz, denn während der gesamten Wegstrecke wurden sie von Truppen des ungarischen Königs streng überwacht. Immerzu waren seine Soldaten zu sehen, waren in der Nähe, ritten an Alice’ Wagen vorbei, und ständig hatte sie Angst, einer von ihnen würde sie bezichtigen, den Apfel oder die Weintrauben, die sie aß, gestohlen zu haben. Dann würde sie auf der Stelle gehängt.
Überhaupt war die Verrichtung elementarer Bedürfnisse eine Qual. Die Pilger zogen in unglaublicher Geschwindigkeit weiter und sie musste jedes Mal ein ganzes Stück hinterherrennen, um ihren Wagen wieder zu einzuholen. Für nichts blieb Zeit, an Waschen war kaum zu denken und selbst die Messe kam zu kurz. Ein Gebet am Morgen, am Mittag und eines am Abend. Man lief fast bis in die Nacht. Dann wurde das Lager aufgeschlagen, die meisten breiteten ihre Decken und Felle auf dem Boden aus, eine Plane oder ein Baum bot Schutz vor Regen. Zum Glück regnete es nur selten. Und der Vater sagte, zum Pilgern sei es jetzt die beste Zeit. Trotzdem fand Alice die Nächte kalt und sie fror unter ihrer Decke auf ihrem Wagen. Sie vermisste ihr Bett. Sie vermisste Martin. Wie oft hatten sie abends noch zusammengehockt. Im Oktober meistens noch draußen, in ihrem Apfelgarten vor der Stadt beim Kloster St. Nikola. Deutlich hörte sie das Krachen, wenn sie in einen frisch gepflückten Apfel bissen.
Und Martin?
Martin kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Er tat, was man ihm befahl, verrichtete seinen Dienst für den Grafen Otto von Baerheim und für ihren Vater. Ansonsten war er viel mit dem Mönch Markus und einer Gruppe anderer junger Männer zusammen, die als Knechte nach Jerusalem zogen.
Alice fühlte sich allein, obwohl sie von Tausenden von Menschen umgeben war und mit den jungen Frauen ihrer Umgebung Bekanntschaft geschlossen hatte.
Es war schon Ende Oktober und nachts war der Boden gefroren, da sah sie am Wegesrand einen Priester, der die Erde von zwei notdürftig ausgehobenen Gräbern weihte. Am Rande lagen, in Tücher gewickelt, die Toten. Es war ein Kind dabei, ein Säugling, daneben der Körper einer Frau, das musste die Mutter sein.
Wie nun so oft, musste sie auch an ihre eigene Mutter denken. Am Ende eines großen Festes, das Karl seiner Frau zu Ehren im Tanzsaal gegeben hatte, stürzte sie die steinerne Treppe hinunter und starb.
Ach, Mutter! Alice wusste von ihr so wenig. Dass sie schön war und sehr jung, als sie den Tod fand. Es war sonderbar, dass der Vater erst jetzt zum ersten Mal mehr von ihrer Mutter erzählt hatte. Sie war also geschickt und gewandt und gern auf Bäume geklettert – und das zusammen mit dem strengen Abt Johannes, der damals noch Daniel hieß und ein nichtsnutziger Luftikus war.
Und was war das für eine Sünde, die begangen zu haben der Abt den Vater bezichtigte?
Es musste wohl eine wirklich böse Tat gewesen sein.
Darin unterschied sich der Vater von diesen Rittern, die sich als miles Christi, als Soldaten Christi, verstanden und stolz darauf waren, für Christus kämpfen zu dürfen. Und darin unterschieden Alice und
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