Die Pilgerin
wie innen ein Riegel zurückgezogen wurde. Die Tür öffnete sich eine Handbreit und der Teil eines bärtigen Kopfes wurde sichtbar. Als der Mann sich überzeugt hatte, dass draußen nur harmlose Pilger standen, trat er auf die Schwelle und begrüßte die Gruppe in einem so eigenartig klingenden Französisch, dass selbst Starrheim ihn im ersten Augenblick nicht verstand. Die Gesten des Mannes waren jedoch eindeutig. Daher bedankte Graf Rudolf sich im Namen seiner Gefährten, eilte zu dem offenen Herd, auf dem ein kräftiges Feuer prasselte, und begann sich bis auf die Haut auszuziehen. Die nassen Kleidungsstücke hing er in der Nähe des Herdes auf, damit sie trocknen konnten.
Die anderen machten es ihm sofort nach, nur Tilla stand wie erstarrt und fühlte den Boden unter ihren Füßen wanken. Jetzt werden alle erfahren, dass ich eine Frau bin, konnte sie nur denken und machte sich Vorwürfe, weil sie es ihnen nicht schon längst gesagt hatte. So aber würden ihre Gefährten sie für ein unvernünftiges Wesen ohne Anstand und Moral halten.
Hedwig hatte sich ebenfalls aller Kleider entledigt und stand nackt und rosig im Raum, als ihr Blick auf Tilla fiel. Sofort begriff sie, was die junge Frau in diesem Augenblick bewegte. »So,wie du aussiehst, holst du dir noch den Tod, Junge. Zieh dich aus und wickle dich in das hier ein.«
Bei diesen Worten griff Hedwig nach der aus Fellstücken zusammengenähten Decke, die auf der Bettstelle lag, ging damit auf Tilla zu und stellte sich so, dass die anderen ihr nicht beim Ausziehen zusehen konnten. Dann hüllte sie Tilla ein und achtete darauf, deren Haar, das sonst von einem Tuch gebändigt unter dem Hut versteckt war, ebenfalls zu bedecken. Zuletzt schob sie Tilla auf das Feuer zu und setzte sie auf einen dreibeinigen Hocker, der neben dem Herd stand.
»Jetzt wärm dich erst einmal auf, Otto. Das nächste Mal passt du aber auf, wenn du über einen Graben hüpfst. Bestimmt wirst du einen kräftigen Schnupfen davontragen.« Mit dem Gefühl, genug für Tilla getan zu haben, stellte Hedwig sich neben das Feuer und hielt die Hände über die Flammen, um sich zu wärmen.
»Das tut gut, nicht wahr?«, sagte sie zu Ambros, der wie ein nackter, bleicher Riese neben ihr aufragte.
Währenddessen unterhielten Vater Thomas und Rudolf von Starrheim sich mit dem Besitzer des Hauses, einem kleinen, hageren Mann mit dunklen Haaren, der, wie er erklärte, selbst um Frau, Sohn und Tochter bangte, die zu einer nahe gelegenen Kapelle aufgebrochen waren und längst wieder hätten zurück sein müssen.
Vater Thomas sprach ein Bittgebet für die Vermissten und setzte dann die Unterhaltung fort. Was er erfuhr, gefiel ihm wenig, denn sie waren tatsächlich von dem Weg zur Grande Chartreuse abgekommen. Wie ihr Gastgeber erklärte, würde die Straße dorthin jedoch nach dem heftigen Regen für mehrere Tage unpassierbar sein, und er schlug ihnen vor, den Weg, dem sie gefolgt waren, weiterzugehen. Auf diese Weise würden sie zu der von ihm erwähnten Kapelle gelangen und dort ebenso gut betenkönnen wie im Schatten der großen Kartause. Zwei Tage später würden sie die Stelle erreichen, an der der Pfad in den normalen Pilgerweg mündete, und ihre Wallfahrt fortsetzen können.
»Was meint Ihr?« Vater Thomas sah Starrheim unentschlossen an. Einesteils wäre er gerne dem gewohnten Pilgerweg gefolgt, andererseits reizte ihn die Gelegenheit, an einer neuen, dem Herrn geweihten Stelle einige Gebete zu sprechen.
Der Graf überlegte kurz und wies dann auf ihren Gastgeber. »Wenn wir zur Kartause ziehen wollen, müssten wir hier mehrere Tage Rast machen, doch ich bezweifle, dass unser Freund hier in der Lage ist, eine so große Gruppe zu versorgen.« Seine Worte waren nicht unberechtigt, denn an der Stange, die unter dem Dach befestigt war, hingen nur wenige steinhart geräucherte Würste, und auf einem ebenfalls unter dem Dach angebrachten Brett lagen vier doppelt faustgroße Käse. Das reichte vielleicht für zwei oder drei Mahlzeiten, aber gewiss nicht für länger.
»Ihr habt Recht! Wir ziehen so weiter, wie der Mann uns geraten hat.« Vater Thomas schlug unwillkürlich das Kreuz, denn er hoffte, dass der andere nicht mit Räubern im Bunde stand und ihnen Reisende als leichte Opfer zutrieb. Dann aber sagte er sich, dass er immerhin sieben Männer bei sich hatte, von denen der Graf im Kampf geschult war und zumindest Ambros über größere Körperkräfte verfügte. Also vermochten sie eine kleinere
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