Die Pilgerin
seine Meinung mit raumgreifenden Gesten unterstrichen.
Tilla kicherte boshaft, als er nun herbeieilte, um wenigstens noch Renata über das Wasser zu heben. Sie selbst musste hinüberspringen, so wie es die Männer taten. Dabei rutschte sie auf einem Stein am Ufer aus, stürzte und tauchte bis über die Knie ins Wasser. Es war eisig kalt und sie schoss mit einem Aufschrei heraus.
»Geschieht dir recht!«, spottete Sebastian. Er hatte zwar auch nasse Schuhe, war aber ab den Waden trocken.
Tilla würdigte ihn keiner Antwort und reihte sich wieder in die Gruppe ein. An diesem Tag trug Dieter das Kreuz und schritt stramm aus. Hedwig und die beiden Schwestern hatten Mühe, ihm zu folgen. Dennoch hielt Vater Thomas ihn nicht zurück. Wallfahrten waren mit Anstrengungen verbunden und man musste bis an seine Grenzen gehen. Außerdem war es noch weit bis zu ihrem Ziel, und ein mattes Blau überzog den Himmel, das allmählich in ein Grau überging, welches an geschmolzenes Blei gemahnte.
Der Wind frischte auf und Tilla fühlte ihre Unterschenkel kalt werden. Ihre Waden verkrampften sich und sie biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz und Erschöpfung zu weinen.
Vater Thomas warf einen besorgten Blick auf den Horizont. »Es wird ein Gewitter geben und das möchte ich hier in den Bergen nicht im Freien erleben müssen!«, rief er und trieb seine Schäflein unbarmherzig an.
Auch Tilla blickte nach oben und bekam den ersten Regentropfen genau ins Auge. Noch während sie mit dem Ärmel über ihr Gesicht wischte, öffneten sich die Schleusen des Himmels und das Wasser stürzte mit einer Macht herab, als wären sie unter einen Wasserfall geraten.
»Weiter!«, schrie Vater Thomas gegen den aufkommenden Sturm an. Fast im selben Augenblick rollte der erste Donner, fing sich in dem schmalen Tal und hallte krachend von den Felswänden wider. Jetzt musste der Pilgerführer niemand mehr antreiben, denn die Angst vor dem Wetterschlag verlieh allen Flügel.
Längst waren die Pilger trotz der eng um den Leib geschlungenen Pelerinen bis auf die Haut nass. Die Sicht wurde von Schritt zu Schritt schlechter und selbst das Licht der Blitze vermochtedas Land kaum noch zu erhellen. Die Felsen am Weg wurden zu grauen Schatten, Riesen und Ungeheuern gleich, die jeden Augenblick ihre Arme ausstrecken konnten, um die hilflosen Pilger zu zerschmettern.
Tilla stürzte und glaubte im ersten Augenblick, eine unsichtbare Hand hätte ihren Knöchel ergriffen. Von Panik erfüllt fuhr sie herum und riss ihr Messer heraus. Dann stellte sie fest, dass sie über die verkrüppelte Wurzel einer Kiefer gestolpert war. Erleichtert befreite sie ihren Fuß und hetzte den anderen nach.
Das Gewitter schien Stunden zu dauern und dabei an Macht noch zuzunehmen. Zwar ging es nun wieder bergab, doch das Wasser rann wie ein Bach die Straße hinunter, und sie mussten aufpassen, damit sie nicht ausrutschten und den Abhang hinabstürzten.
Nach einer Weile stieß Ambros, der inzwischen das Kreuz von dem völlig erschöpften Dieter übernommen hatte, einen erleichterten Ruf aus. »Seht, da steht ein Haus!«
Alle eilten auf das Gebäude zu, auch wenn Vater Thomas ein besorgtes Gesicht machte. »An dieses Haus kann ich mich nicht erinnern. Wir müssen vorhin eine falsche Abzweigung genommen haben. Ich fürchtete es bereits, als es plötzlich bergab ging, doch ich war mir nicht sicher.«
Den anderen war es gleich, ob nun ein Pilgerhospiz vor ihnen lag, eine Herberge oder ein Bauernhaus. Was es auch sein mochte, es versprach Trockenheit und Wärme und das schien ihnen derzeit das höchste Glück.
Tilla betrachtete das Gebäude, das eher einem Stall als einem Wohnhaus glich. Es war aus massiven Balken errichtet worden, in die man kleine Fenster geschnitten hatte, deren Läden nun wegen des Unwetters fest verschlossen waren. Das flache Dach bestand aus dünnen Steinplatten, die von darauf liegenden Steinenfestgehalten wurden. Ob hinter diesem Gebäude noch weitere lagen, konnte sie in dem Zwielicht des Wetterschlags nicht erkennen.
Ambros trat auf die Tür zu und setzte aufatmend das Kreuz ab. Obwohl er der kräftigste Mann der Gruppe war, hatte er die Last zuletzt kaum mehr bewältigen können. Vater Thomas klopfte an die Tür und bat mit lauter Stimme um Obdach.
Tilla glaubte zwar nicht, dass hier jemand seine lateinischen Worte verstehen konnte, doch sie hoffte ebenso wie die anderen, dass man sie einlassen würde.
Es dauerte einen Augenblick, dann hörte sie,
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