Die Pilgerin
hinter den Ohren war. Die restlichen Männer der Gruppe schienen sie jedoch für ein männliches Wesen zu halten. Vor allem bei Sepp war sie froh darum, denn dieser musterte die Frauen in den Dörfern mit Blicken, als wären sie Hühner, von denen er sich das fetteste für das Abendessen aussuchen wollte.
Anders hingegen war es bei Renata und Anna. Die Zwillingsschwestern mochten von Hedwig eingeweiht worden oder selbst hinter ihr Geheimnis gekommen sein. Zwei, drei Tage lang behandelten die beiden sie schroff, ja fast beleidigend, dann aber siegte ihr gutmütiges Naturell und sie taten alles, um ihr zu helfen. Wäre Vater Thomas nicht dazwischengetreten, hätten die Schwestern ihr sogar noch das schwere Kreuz abgenommen. Die Hilfsbereitschaft und das offensichtliche Mitleid der beiden bereiteten Tilla Gewissensqualen, und sie hätte das Täuschungsspiel am liebsten aufgegeben. Doch ihre Angst vor Sepp, der sie für ein lockeres Ding halten und vielleicht bedrängen würde, hielt sie ebenso davon ab wie die Tatsache, dass Rigobert Böhdinger und Anton Schrimpp noch immer nach ihr suchten. Das hatte Vater Thomas in Erfahrung gebracht, und er wunderte sich ebenso wie Tilla über deren Hartnäckigkeit. Sie konnteweder ihm noch sich selbst erklären, was diese beiden Männer dazu trieb, so weit in die Fremde zu reiten, obwohl sie keine Spur von ihr gefunden haben konnten. Aber ihr war klar, dass das Verhalten der beiden nichts Gutes für ihre eigene Heimkehr zu bedeuten hatte.
Der Weg und die schwere Last des Kreuzes hatten Tilla stark zugesetzt. Sie war schmaler geworden und glich in ihrer Kleidung noch stärker einem schlanken Jüngling als zu Beginn der Reise. Ihr Geist und ihr Wille waren jedoch ungebrochen, auch wenn sie inzwischen wusste, dass sie kein Kind bekommen würde. Bei ihrem Nachtquartier in Annecy hatte ihre Blutung eingesetzt, und im ersten Augenblick war sie ebenso erschrocken wie enttäuscht gewesen. Dann aber hatte sie sich damit abgefunden. Es war ihr gelungen, ihr weibliches Unwohlsein vor den anderen zu verbergen, und zu ihrem Glück hatte sie an diesem und den beiden nächsten Tagen nicht das Kreuz tragen müssen.
»Heute Nacht werden wir in der Nähe der Grande Chartreuse übernachten. Die frommen Mönche haben am Talweg ein Hospiz für Pilger errichtet. Erwartet jedoch kein reichliches Mahl, denn die Kartäusermönche sind für ihre Enthaltsamkeit bekannt.«
Vater Thomas’ Worte rissen Tilla aus ihrem Sinnieren. Sie begriff im ersten Augenblick nicht, ob seine Bemerkung über die Kartäuser spöttisch gemeint war oder Anerkennung ausdrücken sollte. Auf dem bisherigen Weg hatte sie bemerkt, dass ihr Pilgerführer ein Freund guten Essens war und auch seine Anvertrauten aufforderte, beherzt zuzugreifen. Dabei hatte er Anna und Renata, die sich auch unterwegs streng an die Fastengebote hatten halten wollen, mehrfach harsch angefahren und ihnen befohlen, genug zu essen, und sie auch angewiesen, sich endlich feste Schuhe zu besorgen, da sie ihre Füße bereits blutiggelaufen hatten. Andererseits lobte er die Mönche in streng geführten Gemeinschaften für ihr gottgefälliges Leben und hatte sich durchaus schon tadelnd über die Lebensweise der Bewohner des einen oder anderen Klosters ausgelassen, bei dem ihm die Sitten allzu locker erschienen.
Es war nicht leicht, Vater Thomas zufrieden zu stellen, dachte Tilla, obwohl sie zu den am wenigsten kritisierten Mitgliedern der Gruppe zählte. Sebastian, Rudolf und vor allem Sepp mussten sich häufiger maßregeln lassen. Tilla hatte gehofft, dass Sebastian sich als Freund erweisen und sie unterstützen würde. Stattdessen gab er sich grantig und stichelte gegen Starrheim, der sich ihr stärker als den anderen angeschlossen hatte. Auch gesellte er sich meist zu Sepp, der aus seiner Abneigung gegen Edelleute ebenfalls wenig Hehl machte. Die anderen Gruppenmitglieder aber hingen an den Lippen des Grafen, denn er wusste von so erstaunlichen Dingen zu berichten, dass Tilla den Verdacht hegte, er habe das meiste nur erfunden, um sich insgeheim über die Gutgläubigkeit seiner Begleiter lustig zu machen.
Eben half der Ritter Anna über einen Bachlauf hinweg, der die Straße kreuzte. Während die Frau sich bedankte, fing Sebastian einen ärgerlichen Blick ihres Führers ein. Immerhin hatte er versprochen, sich so um Anna und Renata zu kümmern, als wären es seine Verwandten. Doch anstatt auf die Schwestern zu achten, hatte er eifrig mit Sepp diskutiert und
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