Die Pilgerin
anschloss.
Trotz der Enge hatte dieses Häuschen Tilla stets mehr Heimat geboten als das große, reich ausgestattete Anwesen ihrer Familie. Das lag wohl an ihrem Vater, der erst richtig von ihr Notiz genommen hatte, als er bettlägerig geworden und auf ihre Pflege angewiesen war. Auch für die Mutter hatte bis zu ihrem Tod nur Otfried etwas gegolten, und daher war für sie selbst nur wenig Liebe übrig geblieben. Wenn Elsa Heisler sich ihrer nicht angenommen hätte, wäre ihr Leben wohl recht trostlos verlaufen. Trotz des großen Altersunterschieds war die Kinderfrau der einzige Mensch, dem sie vertrauen und mit dem sie über alles reden konnte. Sie hatte zwar einige Freundinnen etwa in ihrem Alter, doch die waren Schnatterliesen, die nichts ernst nahmen und überall herumtratschten. Elsa hingegen hörte ihr zu, tröstete sie und gab ihr gute Ratschläge. Das hatte die alte Frau in den letzten Wochen häufig tun müssen, doch heute war es zum Glück anders, denn sie brachte eine gute Botschaft mit. Der Vater befand sich auf dem Weg der Besserung, und Tilla war fest davon überzeugt, dass er seine Krankheit bald überwunden haben würde.
Sie trat auf die Tür zu, und noch ehe sie klopfen konnte, schwang diese auf und eine kleine, leicht verhutzelt aussehende Frau sah ihr lächelnd entgegen. »Komm herein, mein Kind! Ich habe eben Pfefferminztee aufgegossen. Zusammen mit ein paar Apfelküchlein wird er dir gewiss munden.«
Tilla schnupperte und bekam den starken Duft nach Pfefferminze in die Nase. »Danke, Elsa! Wieso hast du gewusst, dass ich vor der Tür stehe?«
Die Alte schüttelte nachsichtig den Kopf. »Heute ist Samstag! An dem Tag kommst du doch immer zu mir und bist in den letzten Jahren kein einziges Mal weggeblieben. Es müsste schon etwas Schlimmes geschehen, um dich von dem Besuch abzuhalten.«
»Entschuldige, Elsa, aber ich bin ganz aufgeregt. Noch gestern hat es so ausgesehen, als stände mein Vater an der Schwelle des Todes, doch heute geht es ihm viel besser. Der ehrenwerte Doktor Gassner hat ihm jene Medizin anmischen lassen, die dem allerdurchlauchtigsten Herzog Stephan von Bayern geholfen hat.«
Elsas Meinung über den Mediziner, der nur die Reichen der Stadt behandelte und die Armen sich selbst und einigen Kräutersammlerinnen und pflanzenkundigen Knechten überließ, war nicht die beste. Doch sie wollte Tilla die Freude nicht verderben. Daher nickte sie und zog sie zum Herd. »Komm, setz dich ans Feuer! Der Tee ist gleich so weit abgekühlt, dass wir ihn trinken können. Die Apfelküchlein hier sind für dich. Lass sie dir schmecken.«
Tilla wehrte ab. »Ich möchte zuerst die Sachen wegräumen, die ich dir mitgebracht habe!«
Gegen die Energie der alten Frau kam sie jedoch nicht an. Obwohl Elsa um einen ganzen Kopf kleiner war, schob sie ihre junge Freundin zu einem der beiden Stühle, die zusammen mit einem kleinen Tisch, einer winzigen Anrichte, auf der ein Holzschaff mit Wasser und ein Krug standen, dem gemauerten Herd und einem Bord für die Küchengeräte die gesamte Einrichtung des Raumes darstellten. Dabei nahm sie Tilla denKorb ab, stellte diesen unter die Treppe und reichte ihr einen Teller, auf dem ein Berg köstlicher, in Fett ausgebackener Apfelringe lag.
»Ich habe auch etwas Honig zum Süßen für dich«, sagte sie mit einem listigen Zwinkern.
Tilla verstand, was sie meinte. Dieser Honig war gewiss nicht auf normalem Weg in die Stadt gekommen. Wenn die Armen sich einmal eine kleine Freude gönnen wollten, mussten sie solche Leckereien vor den Torwächtern verbergen, denn die Steuern und den Zoll, der im Namen des Magistrats erhoben wurde, konnten sich nur die Wohlhabenden leisten.
Obwohl ihr Vater zu den bedeutendsten Mitgliedern des Hohen Rates der Stadt Tremmlingen zählte, belastete es Tillas Gewissen wenig, sich an dem geschmuggelten Honig zu bedienen. Apfelküchlein schmeckten gesüßt nun einmal besser, und der Pfefferminztee konnte auch einen Löffel davon vertragen.
»Hoffentlich esse ich dir nicht zu viel davon weg«, sagte sie etwas reumütig zu Elsa, doch die alte Frau winkte lachend ab.
»Bewahre mich der Himmel davor, dir Vorwürfe zu machen. Wenn ich daran denke, welch herrliche Sachen du mir jeden Samstag bringst, so ist das Tröpfchen Honig ein geringer Dank! Ich glaube, diesmal ist sogar ein gebratenes Hühnchen dabei.« Elsa leckte sich die Lippen. Da sie keinen Garten besaß, konnte sie sich kein Geflügel halten, wie andere in ihrer Nachbarschaft es
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