Die Pilgerin
haben, derer sie sich selbst noch nicht bewusst gewesen war.
Einige Tage lang quälte Tilla sich mit den immer gleichen Überlegungen und spürte allmählich, dass ihre Gedanken sich im Kreis drehten. Um sich nicht in ihren Sorgen und Ängsten zu verlieren, richtete sie ihr Augenmerk wieder auf die anderen Mitglieder ihrer Gruppe. Hedwig schien zufrieden zu sein, hier ausruhen zu können, und brauchte sie ebenso wenig wie die meisten anderen. Renata aber sonderte sich immer mehr von der Gruppe ab. Wenn sie sich unbeobachtet glaubte, arbeitete es heftig in ihrem Gesicht, und sie schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust. Trat jedoch einer auf sie zu, tat sie so, als wäre nichts geschehen.
Tilla beobachtete sie eine Weile und folgte ihr, als sie wieder einmal hastig die Kammer verließ, die man ihnen im Gästetrakt zugewiesen hatte. Renata eilte zum Río Arga und schlüpfte dort ins Gebüsch. Als Tilla dort ankam, sah sie, dass Renata am Ufer des Flusses kauerte und ihr Frühstück von sich gab.
»Was ist mit dir?«, rief Tilla erschrocken.
Renata hob mit Mühe den Kopf und blickte sie an wie ein Reh, das den Pfeil des Jägers bereits im Leibe spürt. Dann spuckte sie das Erbrochene aus, das sich in ihrem Mund angesammelt hatte, und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haube abfiel und die Haare aufstoben.
»Ich bin schwanger, verstehst du? In mir wächst ein Kind. Ich war fast fünfzehn Jahre verheiratet, ohne dass es geschah, obwohl mein Mann und ich es uns so sehr gewünscht hatten. Doch als mich die Söldner erwischt und beinahe zuschanden geritten haben, hat mir einer von ihnen dieses neue Leben eingepflanzt – und das kann ich jetzt ebenso gut gebrauchen wie die Seuche.«
Obwohl Renata ihre Stimme im Zaum hielt, war ihre Verzweiflung ebenso deutlich zu hören wie zu sehen. Da ihr Magen sich beruhigt hatte, spülte die Frau ihren Mund aus und klammerte sich verzweifelt an Tilla. »Sie werden mir zu Hause nicht glauben, weder mein Bruder noch meine Schwäger! Sie werden sagen, ich wäre zu geilen Kerlen unter die Decke gekrochen und hätte auf diese Art und Weise empfangen. Mein Bruder und sein Sohn werden es als Grund vorschieben, mir das Erbe vorzuenthalten, welches ich noch zu erhalten habe, und mich mit Ruten aus der Stadt treiben lassen, weil ich während der Pilgerfahrt gesündigt hätte. Doch ehe ich über die Straßen ziehe und mich für ein Stück Brot oder eine Münze unter irgendeinen stinkenden Bock lege, gehe ich ins Wasser.«
Da Renata so aussah, als würde sie sich am liebsten gleich umbringen, war Tilla froh, dass der Río Arga jetzt im beginnenden Herbst nur wenig Wasser führte. Sie hätte sonst nicht gewusst, wie sie die unglückliche Frau von ihrer Verzweiflungstat hätte abbringen können. Gleichzeitig fühlte sie, wie eine eiskalte Hand über ihren Rücken strich. Auch sie hätte durchaus schwanger werden können, als Aymer de Saltilieu leibliche Dienste von ihr gefordert hatte. Nur hätte sie dieses Kind in der Heimat als das ihres Ehemanns ausgeben können. Bei ihrer Rückkehr wäre es nicht mehr möglich gewesen, zu erkennen, ob das Kind nun neun Monate nach ihrer erzwungenenHochzeitsnacht geboren worden war oder ein paar Wochen später.
Einen Augenblick lang erwog sie, Renata vorzuschlagen, ihr das Ungeborene zu überlassen, wenn sie damit niedergekommen war, um es als Kind von Veit Gürtler auszugeben. Dann aber schüttelte sie den Kopf. Bei allem Hass und der Verachtung, die sie für die Böhdinger-Sippe und die Schwestern ihres toten Mannes empfand, wollte sie nicht so weit sinken, ihnen ein völlig fremdes Kind als Neffen unterzuschieben. Der Gedanke, dass ein Kind Aymer de Saltilieus für Veit Gürtlers Verwandte ebenfalls fremd gewesen wäre, löste ein gewisses Schuldgefühl in ihr aus. Doch das hätte sie tun müssen, um sich selbst und ihren Ruf zu retten. Noch während sie über die Unlösbarkeit dieses Problems nachdachte, schob sich eine weitere Gestalt durch die Büsche.
Tilla und Renata drehten sich um und sahen Peter auf sich zukommen. Sein spitz zulaufendes Gesicht wirkte unsicher und er knetete seinen Pilgerhut mit den Händen. »Verzeih, Renata!«, begann er mit leiser und fast tonloser Stimme. »Ich bin euch beiden gefolgt und habe gehört, was du eben gesagt hast.«
Während Renatas Gesicht einen schroffen und abweisenden Ausdruck annahm, kam Peter näher und blieb mit gesenktem Kopf vor ihr stehen. »Bitte sei mir nicht böse, aber ich habe mir
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