Die Pilgerin
inzwischen hatte sich in Tremmlingen so viel geändert, dass es ihm vorkam, als sei er schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Nun war Otfried Willinger der unumschränkte Herr der Stadt und fast jedermann glaubte den Gerüchten, er hätte Verbindungen zu den Wittelsbachern.
Der Arzt hatte sich zeit seines Lebens von der Politik ferngehalten, denn sein Ansehen war zu gering, um seiner Stimme in einer Stadt, die von alten Patriziergeschlechtern beherrscht wurde, Gewicht zu verleihen. Ob dies auch in Zukunft so sein würde, wusste er nicht zu sagen. Otfrieds Stellung war mächtiger als die des alten Bürgermeisters, und die meisten buckelten vor ihm, weil sie Angst vor seinen Söldnern hatten, die im ehemaligen Laux-Anwesen hausten und die Einwohner drangsalierten.
»Was willst du?« Otfried merkte, dass der Arzt etwas auf dem Herzen hatte, und war nicht gewillt zu warten, bis dieser den Mund aufmachte.
Gassner schluckte mehrmals und näherte dann seinen Mund Otfrieds Ohr. »Ich muss mit dir, äh, Euch sprechen, Herr. Aber ohne Zeugen!«
Otfried hob die Augenbrauen und zog ihn in den Flur. »Was gibt es denn jetzt schon wieder?«
»Es geht um Eure verstorbene Gattin! Ich habe den Verdacht, sie könnte vergiftet worden sein.«
»Was sagst du da?«
Der Arzt knetete nervös die Hände. »Nun, es ist so: Ich habe bereits beim Tod Eures Schwagers gewisse Anhaltspunkte für eine Vergiftung gefunden, doch damals war ich mir nicht sicher genug, um einen Verdacht äußern zu wollen. Bei Eurem Weib waren die Anzeichen jedoch unübersehbar. Ich wollte aber nichtvor Eurem Gesinde davon sprechen, um keine Gerüchte in die Welt zu setzen, sondern vertraulich mit Euch reden.«
»Das war gut so!« Otfried nickte dem Arzt zu, während seine Gedanken gleichzeitig einen wirren Tanz aufführten. Wenn Gassners Verdacht stimmte, gab es einen Mörder in der Stadt. Nein, nicht in der Stadt, sondern in meinem eigenen Haus, korrigierte er sich. Vor seinem inneren Auge tauchten die Szenen seiner Hochzeit und die seiner Schwester auf. Damals hatte Ilga seiner Braut einen Becher mit rotem Wein gereicht. Den aber hatte Veit Gürtler geleert, kurz bevor er gegangen war. Noch in der gleichen Nacht war sein Schwager gestorben, und jetzt war Gürtlers Nichte tot – ermordet worden, wenn der Arzt Recht hatte. Seine Gedanken glitten noch weiter zurück, zu einigen unbedachten Worten, die jenen Mord ausgelöst haben konnten, und zu der Person, die diese zum Anlass genommen haben musste, seine Frau zu vergiften. Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an und er fixierte den Arzt mit seinem Blick.
»Ich werde deinem Verdacht nachgehen, Gassner. Du aber schweigst vor allen Leuten, verstanden?«
Der Arzt nickte und verabschiedete sich mit einer Miene, die verriet, wie froh er war, aus Otfrieds Nähe zu kommen. Willinger wartete, bis der Arzt sein Haus verlassen hatte, und überlegte sich seine nächsten Schritte. Als er an der Küche vorbeikam und durch die offene Tür die alte Ria und Ilga entdeckte, breitete sich ein böses Lächeln auf seinen Lippen aus. Nicht zum ersten Mal beglückwünschte er sich zu der Tatsache, die Anweisung seines Vaters, die das Gesinde die meiste Zeit aus dem Haupthaus fernhielt, nicht widerrufen und sich nicht mit Dienstpersonal umgeben zu haben. Vor so vielen Augen und Ohren wie im Gürtler-Haus ließ sich nämlich kaum etwas geheimhalten. Aus diesem Grund befand sich außer ihm und denbeiden Mägden niemand in diesem Teil des Anwesens, und das gedachte er auszunützen.
Ilga machte es ihm leicht, denn als sie seinen Schatten in der Tür entdeckte, drückte sie Ria den Kochlöffel in die Hand und erklärte, sie müsse rasch etwas anderes erledigen. Noch während die Alte verwundert mit dem Kopf wackelte, schlüpfte sie hinaus und blieb vor Otfried stehen.
»Verlangt es Euch nach mir, Herr?« Sie sprach leise, damit es Ria nicht hören konnte. Radegund war nun schon einige Tage tot und Otfried hatte sich seitdem nicht mehr als Mann beweisen können. Wahrscheinlich würde er deswegen besonders heftig zu Werke gehen, aber Ilga hoffte, dass sie durch ihre Bereitwilligkeit endlich zum Ziel kam. Daher huschte sie an ihm vorbei zur Kontortür und blieb erwartungsvoll dort stehen.
Ilgas triumphierender Blick, fand Otfried, glich jenem, mit dem sie Radegund bei der Hochzeit den Trank gereicht hatte. Aber statt seiner frisch angetrauten Frau hatte sie Veit Gürtler mit dem Gift gefällt und ihm damit den Weg an die Spitze
Weitere Kostenlose Bücher