Die Pilgerin
nicht aufhalten, wenn ihr euren niederen Instinkten folgen wollt, doch erhofft dann nichts mehr von mir. Ich werde nur dann den Segen über euch sprechen, wenn ich euch dessen für wert befinde – in Santiago vor der Mauer der Kathedrale, in der das Herz von Tillas Vater ruht.«
»Das ist ein guter Ort, findest du nicht auch, Sebastian?« Tilla sah, dass es etwas schmerzlich auf seinem Gesicht zuckte, doch er überwand sich und nickte.
»Gut! Wir warten bis dorthin. Aber dann gehörst du mir und ich werde mit dir das tun, auf was ich jetzt verzichten muss!« Es kostete Sebastian Überwindung, seinen Trieb niederzukämpfen, doch um Tillas willen war er dazu bereit.
Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an und fand es plötzlich ebenfalls schade, dass sie warten mussten. Aber sie sagte sich,dass es in einer von Gott gesegneten Ehe noch weitaus schöner sein würde als hier auf dem harten, von langen Piniennadeln bedeckten Waldboden.
»Komm, wasch mir den Rücken«, forderte sie Sebastian auf und drehte ihm die Kehrseite zu.
Während die meisten der Gruppe zusammengeblieben waren, hatte Ambros sich abgesondert und saß ein ganzes Stück entfernt auf einem Felsen, der in das Wasser hineinragte. Anna beobachtete ihn eine Weile und sah, wie er immer wieder den Kopf in den Händen barg. Es tat ihr weh, ihn so unglücklich zu sehen, und so wanderte sie unauffällig in seine Richtung.
»Was soll ich nur tun?«, hörte sie ihn jammern, als sie nahe genug an ihn herangekommen war.
Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, schob sie sich neben ihn und fasste nach seiner Hand. »Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt? Manchmal ist es besser, wenn man einen Menschen hat, dem man sein Herz ausschütten kann.«
Ambros hob den Kopf und drehte sein Gesicht in ihre Richtung. Seine Miene wirkte verkniffen und für Augenblicke sah es so aus, als wolle er sie mit harschen Worten fortschicken. Dann schluckte er die Tränen, die ihm in die Augen stiegen, und ein Schluchzen erschütterte seinen Körper.
»Es ist …, es …« Er atmete mehrmals tief durch, weil ihm die Sprache versagte, und blickte Anna verzweifelt an. »In meine Heimatstadt kann ich nicht mehr zurückkehren. Alle halten mich dort wegen meiner Größe und meiner Kraft für einen mutigen Kerl, der selbst dem Teufel ins Gesicht spucken würde. Jetzt aber werden sie von anderen Pilgern erfahren, wie feige ich gewesen bin, und über mich lachen. Viele würden versuchen, sich an mir zu reiben, um selbst als großer Kerl dazustehen. Davor habe ich Angst.«
»Das verstehe ich!« Anna nickte, denn sie wusste selbst, wie es in einer kleinen Stadt zuging. Einmal durch das Sieb gefallen würde es Ambros wohl kaum mehr gelingen, sein früheres Ansehen wieder zu erringen. Für seine Mitmenschen dort würde er der Kerl bleiben, der sich trotz seiner Kraft als Feigling erwiesen hatte, und dies würden viele ausnützen.
»Was willst du denn sonst tun?«
Ambros starrte auf seine Hände, die zwar groß waren, aber zum Kampf wenig taugten. Dafür vermochten sie die feinsten Kunstwerke aus Gold zu fertigen. Sonst war er immer stolz auf sein Können gewesen, doch im Augenblick zweifelte er an allem. »Der Abt von Puente la Reina hat mir angeboten, in seiner Stadt zu bleiben und dort als Goldschmied zu arbeiten. Doch ich habe Angst davor, allein in einem fremden Land bleiben zu müssen.«
Anna sah ihn eine Weile lang schweigend an. Trotz seiner Größe war er ein durchaus ansehnlicher Mann und sie hatte ihn auf ihrem gemeinsamen Weg gut genug kennen gelernt, um ihn einschätzen zu können. Sie mochte ihn mehr als jeden anderen Mann in ihrer Gruppe, auch wenn sie ihn nicht wirklich liebte. Doch Mitleid war ebenfalls ein starkes Gefühl, und sie fürchtete genau wie er die Einsamkeit. Ihre Schwester würde in eine fremde Stadt ziehen, und was sie von ihren Verwandten erwarten konnte, das hatten ihr Neffe und sein Freund ihr deutlich gezeigt. Sie fühlte sich genauso allein wie Ambros, und das mochte ihn und sie zusammenschweißen. Wohl zählte sie einige Jahre mehr als er, doch dies fiel kaum ins Gewicht, denn Renatas Schicksal bewies ihr, dass sie noch Kinder bekommen konnte.
Dann aber dachte sie an die Vergangenheit und den Grund für ihre Pilgerreise, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. DerMut, der sie bisher erfüllt hatte, begann sie wieder zu verlassen. »Verzeih, dass ich dich gestört habe, ich …« Sie brach ab und wollte gehen.
Ambros blickte erstaunt auf und
Weitere Kostenlose Bücher