Die Pilgerin
Kleidung tauschen und uns als die jeweils andere ausgeben sollten, damit die göttliche Ordnung nicht geschmäht wird. Das habe ich jedoch nicht gewagt, sondern diese Sünde ohne eine weitere Lüge begangen. Nur wenige Wochen danach haben sich unsere Männer auf jene Geschäftsreise begeben, auf der sie von Räubern überfallen und getötet worden sind. Das war gewiss die Strafe für ihre und unsere Sünden. Um ihre Seelen und natürlich auch die unseren zu retten, haben wir diese Pilgerfahrt gelobt. Doch der Zorn des Herrn ließ nicht von uns ab, wie man am Schicksal meiner Schwester erkennen kann. Dabei war sie die Schuldloseste von uns allen.«
Ambros, der eben noch geglaubt hatte, sein eigenes Leben nicht mehr schultern zu können, fühlte sich plötzlich so stark wie selten. Er betrachtete die Frau neben sich voller Mitleid und zog sie an sich.
»Du magst gesündigt haben, doch das geschah unter Zwang. Ich verstehe, dass du es nicht gewagt hast, dich deinem Mann lange zu widersetzen. Die Schuld an allem, auch an dem, was Renata widerfahren ist, liegt allein bei euren Männern. Wären sie nicht den Verlockungen des Teufels erlegen, würdet ihr noch immer friedlich in eurer Heimatstadt leben, und ich hätte dich nie kennen gelernt.«
Der Ton, in dem er es sagte, ließ Anna aufsehen. »Es waren keine schlechten Männer, doch die Versuchung, tagtäglich zwei Frauen vor sich zu sehen, die wie eine aussahen, war zu groß für sie.«
»Wenn wir wieder in Santiago sind, werden wir für deinen und Renatas Mann beten und ihre Seelen dem heiligen Jakobus und dem Heiland empfehlen. Dann aber sollten wir unser Leben in die eigenen Hände nehmen. Sieh das, was euch auf der Wallfahrt widerfahren ist, als Gottes Gnade an: wäret ihr nicht nach Santiago aufgebrochen, hätte deine Schwester niemals Peter kennen gelernt, und du wirst nicht bestreiten wollen, dass er ihr ein guter Mann ist!«
»Das tue ich gewiss nicht.« Anna lehnte sich gegen Ambros und legte den Arm um ihn. Da sie seit ihrem Bad im Meer nackt waren, reagierte sein Körper sofort auf ihre Berührung. Er bettete sie noch einmal auf den Rücken und grinste. »Mir ist danach, noch einmal zu sündigen! Dann aber sollten wir zu Vater Thomas gehen und ihn um den Trausegen bitten.« Er betrachtete sie lächelnd und fand, dass er es schlechter hätte treffen können. Wohl war Tilla jünger und auch etwas hübscher alsAnna, doch zum einen liebte sie ihn nicht und zum anderen wollte er kein Weib haben, das sich in allen Dingen mutiger erweisen würde als er selbst.
VI.
Annas und Ambros’ Entschluss überraschte die anderen, doch nach der ersten Verblüffung fanden alle, dass die beiden gut gewählt hatten. Zwar drückte Renata die eine oder andere Träne aus ihren Augen, denn sie musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, bald auf immer von ihrer Schwester scheiden zu müssen, doch sie freute sich, dass auch Anna ihr Glück gefunden hatte. Ambros, der aus seiner tiefen Depression erwacht war und sich wieder auf das Leben freute, erhielt nicht weniger Zuspruch als seine künftige Frau. Auch wenn sich nicht jeder für sein Handwerk interessierte, hörten alle ihm aufmerksam zu, wenn er von den Kunstwerken aus Gold und Edelsteinen sprach, die er schon bald anfertigen wollte.
Im Bewusstsein, dass nun die letzten Schatten gewichen waren, kehrte die Gruppe von ihrem Ausflug ans Ende der Welt froh und erleichtert nach Santiago zurück. Dort hielt Vater Thomas Wort und vermählte Tilla und Sebastian vor der großen Kathedrale neben der zugemauerten Nische mit dem Kästchen aus Zinn. Auch Anna und Ambros spendete er dort den Trausegen. Auf die Erfüllung ihrer Wünsche mussten die beiden Paare jedoch verzichten, denn die heilige Stadt war wegen der Anwesenheit des Königs völlig überlaufen und die Mitglieder der Gruppe fühlten sich beinahe wie das heilige Paar am Vorabend der Geburt Jesu in Bethlehem. Selbst Starrheims Einfluss vermochte ihnen nur ein kleines Stübchen zu besorgen, in dem siealle dicht gedrängt übernachten konnten. An eine traute Zweisamkeit, die Tilla und Sebastian, aber auch Anna und Ambros sich wünschten, war daher nicht zu denken.
Die kleine Schar war schließlich froh, als sie alle Riten befolgt und sämtlichen heiligen Handlungen beigewohnt hatten, denn sie sehnten sich allmählich danach, den Weg in die Heimat anzutreten. Bei seinen früheren Pilgerreisen hatte Vater Thomas mit seinen Schäfchen auch den Rückweg zu Fuß bewältigt. Nun aber
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