Die Pilgerin
mit den Schultern und sagten sich, dass er seine Probleme mit sich selbst ausmachen müsse. Nur Anna blieb wachsam und lauerte auf eine Gelegenheit, den unsichtbaren Panzer zu durchbrechen, in den Ambros sich gehüllt hatte. Während der Reise zum Ende der Welt ergab sich jedoch keine Gelegenheit.
Die Strecke war bergig und nicht leicht zu bewältigen. Klöster und Pilgerherbergen gab es kaum, und so mussten sie einmal unter freiem Himmel auf einem Bett aus Heidegras nächtigen, das durch Ginsterbüsche nur unzulänglich vor dem scharfen Westwind geschützt wurde. Am Nachmittag des dritten Tages mischte sich ein seltsamer Geruch in die vom Duft des Heidekrauts und vielerlei anderer Blumen erfüllte Luft. Es kribbelte in den Nasen und Hedwig musste ständig niesen.
Vater Thomas winkte den anderen heftig zu, ihm zu folgen, und schritt rascher aus. Ein Pinienwald tauchte vor ihnen auf, und durch dessen Stämme schimmerte ein Blau, das außer ihremFührer noch keiner von ihnen gesehen hatte. Als sie das Wäldchen durchquert hatten, blieb Vater Thomas stehen und wies auf die schier endlose Wasserfläche, die sich vor ihnen ausbreitete. Zwischen ihnen und dem Ozean lag nur noch eine kleine Landspitze, deren felsige Küste im ständigen Rhythmus von kräftigen Wellen beleckt wurde.
»Finis Terrae, das Ende der Welt!« Der Pilgerführer sog die salzige, nach Tang schmeckende Luft tief in seine Lungen. Es war das letzte Mal, dass er das Meer riechen und sehen durfte. Mit dem Gefühl, etwas Schönes auf immer zu verlieren, betrat er den Weg, der sich in unzähligen Windungen in die Tiefe schlängelte, und blieb erst stehen, als die vom Wind aufstiebende Gischt sein Gesicht netzte.
Seine Begleiter kletterten ängstlich hinter ihm her und schienen nicht glauben zu können, was ihre Augen ihnen zeigten.
»Ich kann nichts anderes mehr sehen als Wasser«, rief Sebastian verblüfft. Zu Hause hatte er nur die Donau und deren Nebenflüsse gekannt und unterwegs den Genfer See gesehen. Doch nichts war mit diesem gewaltigen Anblick vergleichbar.
Hedwig wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte begehrlich in die endlosen Fluten. »Dürfen wir hier baden, ehrwürdiger Vater? Ich könnte eine Abkühlung vertragen.«
»An dieser Stelle nicht, doch wenn wir ein Stück zurückgehen, kommen wir an eine sichere Bucht. Wenn ihr euch nach dem Bad am Meer satt gesehen habt, können wir unter den Pinien lagern.« Obwohl Vater Thomas sich ebenfalls nach einem reinigenden Bad sehnte, blieb er noch eine ganze Weile stehen, um den Anblick der blauen Endlosigkeit in sich aufzunehmen.
Die anderen warteten, bis er dem offenen Meer den Rücken kehrte und sie zu einer kleinen Bucht führte, die von einer Felsbank gegen die offene See abgeschirmt wurde. Während er sichso langsam auszog, als wolle er zuerst noch den Anblick des Wassers genießen, schlüpften die anderen hastig aus ihrer Kleidung und sprangen fröhlich wie kleine Kinder ins Wasser.
»Puh, das ist noch ganz schön kalt«, stöhnte Hedwig, kehrte aber nicht um, sondern spritzte sich von oben bis unten nass, bevor sie sich hineinplumpsen ließ. Tilla wanderte ein Stück in die Wellen hinein, bis das kühle Nass über ihre Schultern schwappte, und genoss das befreiende Gefühl, sich gründlich säubern zu können. Als sie mit ihren Händen etwas von dem Wasser schöpfte und ihr Gesicht damit benetzte, schmeckte es salzig. Ungläubig schleckte sie ein paar Tropfen mit der Zungenspitze, spie sie aber sofort wieder aus.
»Bei Gott, dieses Wasser kann man nicht trinken!«, rief sie in komischem Entsetzen aus.
»Das Wasser des Meeres ist nicht zu trinken«, erklärte Vater Thomas, der ebenso nackt wie seine Schäflein in die Fluten stieg.
»Kennst du nicht die Sage von der Zaubermühle, die alles gemahlen hat, was ihr Besitzer sich wünschte?«, fragte Sebastian. »Ja, genau! Als er eine Schiffsreise machte, ging an Bord das Salz aus und da bat ihn der Kapitän, welches zu mahlen. Er tat es, doch in der Nacht erfasste den Kapitän die Gier, diese Zaubermühle selbst zu besitzen. Er tötete den Herrn der Mühle, raubte diese und stieg mit ihr an Deck, um Gold zu mahlen. Dabei sprach er dieselben Worte, die er von dem Besitzer gehört hatte, doch da dieser Salz gewollt hatte, mahlte die Mühle nur Salz. Das Wort jedoch, mit dem man den Zauber der Mühle beenden konnte, wusste der Kapitän nicht und so mahlte diese so viel Salz, bis sein ganzes Schiff davon bedeckt war und unterging.
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