Die Pilgerin
endlich hinter ihnen lagen und sie den kehligen alemannischen Dialekt vernahm, den sie mit ein wenig Mühe verstehen konnte. Wenig später erreichten sie die Gegend, in der sie auf Starrheim getroffen waren, und nahmen an, er würde sie dort verlassen. Graf Rudolf hatte sich jedoch entschlossen, Ulm aufzusuchen, den Ausgangs- und Endpunkt dieser Pilgerfahrt, und sich von dort zu den Burgauer Besitzungen seiner Familie zu begeben. Da sechs ihrer Gefährten im fernen Spanien zurückgeblieben waren, freute sich Tilla darüber, denn wenn sich Starrheim, Blanche und Sepp von ihnen getrennt hätten, wären nur noch sie selbst, Hedwig und Sebastian an den Ausgangspunkt ihrer Pilgerschaft zurückgekehrt.
Da Starrheim um Blanches Wohlergehen besorgt war, mieden sie diesmal die Kernlande der Eidgenossen und erreichten ohne jeden Zwischenfall den Bodensee. Die einst so riesig erscheinende Wasserfläche kam ihnen nun, da sie das weite Meer miteigenen Augen gesehen hatten, klein und unbedeutend vor. Auch Hedwig, die bei der ersten Überfahrt vor Angst gebebt hatte, saß diesmal ganz ruhig auf einem Fass, blickte ins Wasser und sah den darin spielenden Fischen zu.
Tilla nahm ihre Hand und lächelte beinahe übermütig. »Bald sind wir zu Hause!«
Hedwig seufzte. »Gott sei es gedankt! Nicht, dass es mir unterwegs nicht gefallen hätte, doch ich möchte mein Enkelkind in die Arme schließen und herzen können. Das Rackerchen kann gewiss schon laufen.« Der Ausdruck ihres Gesichts wurde weich und ihre Augen blickten sehnsüchtig nach Norden.
Tillas Laune sank sofort, denn sie verspürte einen gewissen Neid. Außer der alten Elsa würde niemand sie frohen Herzens willkommen heißen. Ihren Bruder konnte sie nur als Feind ansehen, und Sebastians Vater und Bruder würden über die ohne ihre Zustimmung geschlossene Ehe auch nicht besonders glücklich sein. Daher stieg sie in Meersburg mit einem bitteren Geschmack im Mund an Land.
Jetzt waren es nur noch wenige Tage bis Ulm und sogar Starrheim ritt unwillkürlich langsamer, als bedaure er es, das Ende ihres Weges so bald erreicht zu haben. Niemand aber konnte die Zeit anhalten, und als in der Ferne der Turm des Ulmer Münsters auftauchte, der wie eine Säule in den Himmel ragte, wurde ihnen klar, dass der letzte Tag ihrer Pilgerschaft angebrochen war.
IX.
Vor gut sechzehn Monaten waren sie von Ulm aufgebrochen, doch als Tilla den Platz vor dem Münster erreichte und von ihrem Maultier stieg, erschien es ihr, als wäre es erst gestern gewesen.Es herrschte derselbe Trubel wie damals, und sie erkannte sogar einige der Handelsleute wieder, welche ihr damals die Pilgerausrüstung verkauft hatten. Während Sepp mit den Knechten, die Gaston Fébus ihnen mitgegeben hatte, die Reittiere wegbrachte, betraten Starrheim, seine junge Gemahlin, Tilla, Sebastian und Hedwig das Münster und knieten vor dem Hochaltar nieder.
Ein Mönch, der anhand ihrer Kleidung und der Jakobsmuschel erkannte, dass er hochrangige Pilger vor sich hatte, eilte auf sie zu, um ihnen den Segen zu spenden und sie nach ihrem Begehr zu fragen. Tilla reichte ihm ihren Pilgerpass, den sie zu ihrem Leidwesen nur an wenigen Stellen hatte abzeichnen lassen können. Das Wichtigste war jedoch auf einem zweiten Pergament verzeichnet, nämlich die Tatsache, dass das Herz ihres Vaters an einer heiligen Stelle in Santiago seine Ruhestätte gefunden hatte. Sie reichte dem Mönch ein paar Münzen, damit er für den Toten einige Messen lesen konnte, und stiftete je eine große Kerze für die Heilige Jungfrau und den heiligen Jakobus als Dank für ihre glückliche Rückkehr.
Sebastian vergaß den Karmeliter nicht, der sich für ihn und die anderen geopfert hatte, und spendete eine große Kerze für Bruder Carolus sowie eine kleinere für Manfred. Dazu zündeten sie eine weitere Kerze an, damit auch ihre Freunde gut nach Hause kommen sollten.
Sie wohnten noch einer Messe bei und traten dann mit leichterem Herzen aus dem Dämmerlicht des Kirchenschiffs hinaus in das helle Licht des Tages. Sebastian hielt geblendet den Arm vor die Augen, während Tilla die Lider etwas zusammenkniff. Plötzlich vermeinte sie einen heranhuschenden Schatten zu sehen, drehte sich in die Richtung und sah, dass ein Mann Sebastians Geldbeutel gepackt hatte und ihn mit einem scharfen Messer vom Gürtel abtrennen wollte.
»Halt, ein Dieb!«, schrie sie und packte den Kerl am Arm.
Dieser fluchte und wollte sich losreißen. Doch da war schon Starrheim bei ihm,
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