Die Pilgerin
murmelte Sebastian, der unterdessen ein anderes Schreiben durchgelesen hatte und es nun Tilla reichte. »Lies das! Es wird dich interessieren.«
Tilla nahm das Papier und erkannte die Handschrift ihres Bruders.Dem Datum nach stammte es vom Todestag ihres Vaters und schien ein Testamentsentwurf zu sein, der dem Stadtschreiber zur Ausfertigung hätte übergeben werden sollen. Je länger sie las, umso mehr weiteten sich ihre Augen, bis sie zuletzt Feuer sprühten.
»Oh, Vater, das war also der Grund deines Todes! Der eigene Sohn hat dich umgebracht, damit dieses Testament nicht Gültigkeit erlangen konnte. Sieh her, Sebastian, nach Vaters Willen hätte ich deinen Bruder heiraten sollen und dein Vater wäre Otfrieds geschäftlicher Vormund geworden. Stattdessen hat mein Bruder mich diesem unsäglichen Gürtler überlassen …«
»Und dich um ein hübsches Teil deines Erbes betrogen«, unterbrach Sebastian sie. »Allein dieses Schreiben reicht aus, um ihn zu verurteilen.«
»Das wohl nicht, denn es ist weder unterschrieben noch gesiegelt. Doch wir wissen jetzt, mit wem wir es zu tun haben.« Starrheim kannte die Hintergründe aus einzelnen Bemerkungen der beiden, die er bereits während der Pilgerreise aufgeschnappt hatte.
Tilla stemmte die Arme in die Seiten. »Wir können die Stadt Otfried nicht so lange überlassen, bis der Kaiser eine Entscheidung trifft!«
»Da hast du vollkommen Recht!« Sebastian bleckte die Zähne und wandte sich an Starrheim. »Nach Tillas Worten wird Tremmlingen durch etwa fünfzig bayerische Söldner gehalten. Wie viele Männer braucht man, um mit denen fertig zu werden? Die Stadtbüttel brauchst du nicht zu rechnen. Die taugen nur, um harmlose Bürger zu erschrecken, doch wenn sie einen gut gewappneten Mann sehen, nehmen sie Reißaus.«
»Eine Belagerung erfordert dennoch ein paar hundert Leute. Doch wenn wir mit denen vor Tremmlingen erscheinen, habenwir eine Fehde mit den Bayern am Hals.« Starrheim schien eine offene Auseinandersetzung zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
Sebastian ging mit einer wegwerfenden Handbewegung über die Bedenken des Grafen hinweg und lachte übermütig auf. »Tilla hat mir erzählt, wie ihr Bruder die Stadt besetzt hat, und ich weiß nun, wie wir vorgehen können. Dafür brauchen wir nicht viel mehr Krieger, als die Bayern in Tremmlingen haben. Wie rasch könntet ihr so siebzig, achtzig Leute zusammenholen?«
Der Landpfleger sah Sebastian etwas verwundert an. »Wenn es sein muss, in zwei Tagen.«
»Sehr gut! Übermorgen am späten Nachmittag sollten wir bereit sein. Wie gut kannst du sticken, Tilla? Wir werden deine Nadelfertigkeit brauchen.«
»Für den Hausgebrauch reicht es«, antwortete seine Frau nicht weniger verwundert als Starrheim und die Habsburger Lehensmänner.
»Hedwig kann dir ja helfen! Vielleicht stellen uns unsere Freunde noch ein paar fingerfertige Mägde zur Verfügung.« Er grinste dabei ebenso spitzbübisch wie bei den Streichen seiner Jugendzeit und ängstigte Tilla ein wenig. Zu welchen Tollheiten ihr Mann in der Lage war, hatte sie oft genug am eigenen Leibe verspürt.
IV.
Am übernächsten Tag näherte sich ein Reitertrupp kurz vor der Abenddämmerung dem südlichen Stadttor von Tremmlingen. Dem Edelmann an der Spitze wallte ein blauer Umhang von den Schultern und auf dem Kopf trug er ein riesiges Barett mit schreiend bunten Federn. Ihm folgte eine Dame, die auf einemMaultier saß und sich in einen weißen Mantel gehüllt hatte. Ihr Kopfschmuck war dezenter, er bestand aus einem schleierartigen Tuch, welches auch ihr Gesicht verhüllte, so dass nur zwei blaugraue, etwas besorgt blickende Augen zu sehen waren. Eine Dienerin, die etliche Jahre älter sein mochte, saß ebenfalls auf einem Maultier und murmelte leise Gebete, während die sechs Bewaffneten, die ihnen folgten, zwar ein wenig angespannt wirkten, aber den Mund so fest geschlossen hielten, als wäre es ihnen bei Leibesstrafe verboten worden, sich nur ein Wort entschlüpfen zu lassen.
»Du bist dir sicher, dass das Tor nur von fremden Söldnern bewacht wird, Tilla?«, wandte sich der Anführer an die Verschleierte.
Sie zuckte etwas hilflos mit den Schultern. »Wenigstens war es so, als ich die Stadt aufgesucht habe. Elsa meinte auch, dass Otfried den aus der Stadt stammenden Bütteln nicht trauen würde. Für ein paar Münzen schauen die allzu gerne weg.«
»Dann wollen wir es wagen. Santiago sei mit uns!« Sebastian trieb seinen Hengst zu einer etwas
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