Die Pilgerin
Frau erkennen, wenn du es ihnen gleichtun wolltest. Versuchst du aber, dein Gewand anzubehalten, würdest du gleichfalls Verdacht erwecken. Bitte, tu es nicht!«
»Dann werde ich eben nicht in den Pilgerhospizen, sondern in den Kirchen oder im Freien schlafen. Außerdem kann ich mich, wenn ich weit genug weg bin, wieder in eine Frau verwandeln.« Das war eine Lüge, denn Tilla hatte nicht vor, Frauenkleidung mitzunehmen, aber ihre Worte beruhigten Elsa ein wenig. Dennoch war die Vorstellung, dass ihr einstiger Schützling der göttlichen Ordnung spotten und als Mann auftreten wollte, für die alte Frau so abstoßend, dass dahinter die Gefahren verblassten, die Tilla unterwegs drohen mochten, wenn sie ihr eigenes Geschlecht nicht verbarg.
»Du brauchst dich nicht zu verkleiden! Du musst dich nur einer Pilgergruppe anschließen, die dir Schutz bietet. Sieh dir die Leute vorher gut an, ob sie dir verlässlich erscheinen«, riet sie Tilla und suchte das ganze Wissen zusammen, das sie von den Jakobspilgern erworben hatte, die in den Kirchen der Stadt von ihren Erlebnissen auf dem weiten Weg nach Santiago berichtet hatten.
»Wenn du von dieser Pilgerreise zurückkommst, wirst du beweisen müssen, dass du das Herz deines Vaters zum Grab des heiligen Jakobus gebracht hast. Dein Bruder könnte dich sonst für irre erklären und einsperren lassen. Die Jakobsmuschel, die andere Pilger als Zeichen mitbringen, dass sie ihr Ziel erreicht haben, wird nicht genügen. Also musst du dir einen Pilgerausweis geben lassen. Das ist ein Dokument, welches man in den Kirchen erhält, bei denen sich die Wallfahrer sammeln. Darin beurkunden die frommen Brüder und Schwestern an den heiligen Orten, die du unterwegs besuchst, um zu beten, dass du dort gewesen bist. In Santiago bekommst du, wenn ich mich recht erinnere, noch eine besondere Bescheinigung – wegen des Herzens.« Elsa nickte noch einmal bekräftigend, denn sie hatte lange genug in Willingers Diensten gestanden, um zu wissen, welche Macht das geschriebene Wort besaß.
Tilla umarmte sie dankbar. Dann fasste sie die Hände der alten Frau und wies mit dem Kinn zur Tür. »Ich muss bald gehen, denn mein Bruder lässt wahrscheinlich schon nach mir suchen. Kannst du mir mit etwas Kleidung von deinem Mann aushelfen oder hast du schon alles verkauft?«
Für einen Augenblick wollte Elsa behaupten, nichts mehr zu besitzen, doch sie hatte Tillas bettelnden Augen schon nicht widerstehen können, als diese noch ein kleines Mädchen gewesen war. Rasch stieg sie nach oben und kehrte mit der Sonntagskleidung, der Bruche und einem Unterhemd ihres Mannes zurück, in dem sie ihn eigentlich hatte begraben wollen. Doch da ihr Franz fern von zu Hause an einer Seuche gestorben war, hatte sie die Sachen als letzte Erinnerung behalten. Nun gab sie sie her, um ihre junge Freundin vor ihrem Bruder zu schützen. Dennoch schüttelte sie sich, als Tilla Schultertuch, Kleid und Unterkleid ablegte und in die Bruche schlüpfte.
Während die junge Frau die Beinkleider an dem ungewohnten Kleidungsstück festband, stöhnte sie. »Ist das unbequem! Das zwickt und zwackt ja überall!«
Ein kurzes Hemd, ein Wams und ein Mantel vervollständigten die Verkleidung. Die langen Haare drehte Tilla zu einem flachen Knoten, steckte ihn fest und verbarg ihn unter einem ausgewaschenen Hut. Dann warf sie sich den Beutel über die Schulter, den Elsa inzwischen mit etwas Brot, Käse und mehreren getrockneten Heringen gefüllt hatte und der ganz zu unterst ihren wertvollsten Schatz barg, nämlich das Kästchen mit dem Herzen ihres Vaters. Sie gab Elsa ein paar Münzen, die die alte Frau über die Leckereien hinwegtrösten sollten, die sie nun nicht mehr erhielt, umarmte sie noch einmal und dankte ihr. Dann füllte sie ihre niedergebrannte Laterne mit einem frischen Binsenlicht und verschwand in der Dunkelheit.
Elsa starrte noch eine Weile in die Nacht hinaus, die ihre Freundin verschluckt hatte, schloss dann die Tür und kniete nieder, um für Tilla zu beten. Sie vergaß jedoch nicht, was sie dieser versprochen hatte, und beseitigte den Abraum aus dem Loch noch während der Nacht.
Tilla hatte unterdessen das Westtor erreicht und klopfte den Torwächter aus dem Schlaf. »Was ist denn los?«, brummte dieser, als er den Kopf zur Tür seiner Wachkammer herausstreckte. »Mein Meister schickt mich mit einem Auftrag. Ich soll am Mittag schon in Meitingen sein. Bitte mach die Tür auf.« Im Licht der Laterne, die Tilla wohlweislich
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