Die Pilgerin
den frommen Brüdern des Dominikanerklosters gegangen, um mit ihnen zusammen die Frühmesse zu lesen, so wie er es öfter macht.«
»Gestern war mein Schwager nicht dort, ich habe noch am Morgen mit ihm gesprochen.« Regula Böhdinger strich sich über die Stirn und fand dann, dass die Sache etwas zu hoch für sie war. Rasch eilte sie in den Raum, den der Pfarrherr als Studierzimmer beanspruchte, und teilte ihm die eben erfahrenen Neuigkeiten mit.
»Ich hoffe, sie ist zu ihrem Bruder zurückgelaufen! Dann habenwir endlich unsere Ruhe«, schloss sie mit einem zufriedenen Aufatmen.
Ihr Schwager maß sie mit einem abschätzigen Blick. »Närrin! Wenn Ottilie zu Willinger zurückgekehrt ist, haben wir keine Gewalt mehr über sie. Zusammen mit dem, was der Kerl als Radegunds Mitgift an sich rafft, und dem angeblichen Erbe seiner Schwester wird er uns vollkommen beherrschen und kraft seines Einflusses jeden Versuch von uns im Rat unterbinden, Tillas Heirat für ungültig erklären zu lassen, weil sie die Trauerzeit um ihren Vater nicht eingehalten hat und schon vor der Ehe geisteskrank war. Wenn wir ihm dann nicht so willfahren, wie er es sich vorstellt, vermag er dich und deine Schwester aus eurem Vaterhaus zu vertreiben, so dass ihr als arme Witwen in ein Hospiz gehen müsst und auf milde Gaben angewiesen seid.«
Seine Schwägerin erschrak bis ins Mark. »Was können wir unternehmen, um dieses Unglück von uns abzuwenden?«
»Erst einmal so tun, als wären Tillas Beschwerden über uns, mit denen sie ihren Bruder gewiss überschüttet hat, nur ein Ausbund ihrer überreizten Sinne. Er hat doch selbst gesagt, dass sie nicht ganz bei Trost ist. Am besten wird sein, wenn ich selbst zu Otfried Willinger gehe und mit ihm über seine Schwester spreche.« Der Pfarrherr klappte das Brevier zu, in dem er gelesen hatte, und ließ sich von seinem Leibdiener den Mantel bringen. Kurz darauf schritt er durch die Stadt und nur seine unziemliche Eile wies darauf hin, wie angespannt seine Nerven waren. Bei Willingers Anwesen führte man ihn sofort zum Hausherrn.
Otfried empfing den Schwager seines Schwagers freundlich, obwohl noch immer die Aufteilung des Gürtler-Vermögens einen gewissen Streitpunkt zwischen ihnen bildete. Dennoch sah er Böhdinger als heimlichen Verbündeten an, denn gerade als Pfarrherrn im benachbarten Bayern musste diesem daran gelegen sein,Tremmlingen unter die Herrschaft seines Landesherrn zu stellen, zumal sich dies auch für ihn selbst lohnen würde.
»Wollt Ihr so gut sein und mit mir speisen?«, fragte er, nachdem sie die Grußformeln gewechselt hatten.
»Gerne!« Der Pfarrherr wunderte sich ein wenig über die leutselige Art seines Gastgebers, denn er hatte eher Vorwürfe erwartet, weil Tilla im Gürtler-Haus schlecht behandelt worden sei. Während des Essens dauerte es eine ganze Weile, bis Otfried das Gespräch auf seine Schwester lenkte. »Ich hoffe, Tilla befindet sich wohl?«
Die Frage traf den Pfarrherrn wie ein Schlag. »Aber sie ist doch hier bei Euch!«, platzte er heraus.
»Was sagt Ihr da?« Otfried schüttelte erstaunt den Kopf.
»Davon waren wir überzeugt, denn bei uns ist sie nicht mehr. Sie ist spurlos verschwunden, wie in Luft aufgelöst.« Böhdingers Angst war nicht gespielt, denn wenn Tilla etwas geschehen war, so würde Otfried von diesem Zeitpunkt an als ihr Erbe gelten und seine Macht und seinen Einfluss auf das Handelshaus Gürtler in vollem Umfang ausüben können.
Otfried winkte die Magd heran, die bereitstand, um ihnen vorzulegen. »Ilga, geh nach oben und sieh nach, ob Tilla in ihrem Zimmer ist!«
»Wie Ihr wünscht, Herr.« Ilga knickste kokett und lief aus dem Raum. Es dauerte eine Weile, bis sie zurückkam und kopfschüttelnd in den Raum trat.
»Also, im Obergeschoss ist sie nicht. Ich habe überall nachgesehen.«
»Ob sie ins Wasser gegangen ist?«, fragte Radegund, die bisher stumm bei Tisch gesessen hatte.
Ihrem Onkel lief es kalt den Rücken hinab. »So etwas sagt man nicht!«, wies er sie mit bebender Stimme zurecht.
»Aber wenn sie weder bei euch ist noch hier bei uns, wo soll sie sonst sein?«, antwortete Radegund, der es nicht passte, auch noch als Otfried Willingers Ehefrau von ihrem Onkel getadelt zu werden.
»Ich denke, sie ist bei Laux! Dort dürfte sie Unterschlupf gefunden haben.« Otfried sprang zornig auf und wollte den Raum verlassen, als Ilga ihm in den Weg trat.
»Verzeiht, Herr, eines hätte ich in der Aufregung fast vergessen. Als ich oben
Weitere Kostenlose Bücher