Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
nicht auf ihr eigenes Gesicht lenkte, blitzte eine Münze auf. Es war doppelt so viel, wie die Stadt als Torsteuer verlangte, und Anreiz genug für den Wächter, den Schlüssel zu holen und die kleine Nachtpforte zu öffnen, die für eilige Gäste gedacht war.
    »Welcher Meister schickt dich eigentlich?«, rief er Tilla nach, als sie bereits hindurchgeschlüpft war.
    »Meister Nodler!« Ein anderer Name fiel Tilla in der Eile nicht ein. Doch noch bevor der Torwächter misstrauisch werden konnte, weil ausgerechnet der Schneider einen seiner Gesellen zu mitternächtlicher Stunde auf die Reise schickte, hatte sie ihre Heimatstadt bereits hinter sich gelassen und schritt so rasch aus, wie es ihr mit Hilfe ihrer Laterne möglich war.

XII.
    Als Sebastian sich aus dem Schlamm der Straße gekämpft hatte, war der Mann, den er verfolgt hatte, über alle Berge. Sein Gesicht und seine Kleidung klebten vor Schmutz und er stank nach Dingen, über die er lieber nicht nachdenken wollte. Mitdem Wissen, nicht mehr erreicht zu haben, als sich unendlich zu blamieren, machte er sich auf den Heimweg. Wie zum Hohn riss jetzt die Wolkendecke auf und der Mond spendete genug Licht, um die Straße erkennen zu können.
    Zu Hause angekommen bemerkte Sebastian, dass er keinen Schlüssel für die Hinterpforte bei sich trug. Daher musste er um das ganze Anwesen herum gehen und gegen das Haupttor klopfen.
    »Ich komm ja schon, junger Herr!«, klang die Stimme eines Knechts auf.
    Anscheinend hat man mich schon vermisst, dachte Sebastian seufzend. Nun konnte er sich auf eine doppelte Standpauke durch seinen Vater und seinen Bruder einrichten. Dennoch schlüpfte er erleichtert in den Hof, wurde aber im gleichen Augenblick vom Schein einer Laterne geblendet, die ihm der Knecht entgegenhielt. Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an und begann dann schallend zu lachen. »Bei Gott, wie seht Ihr denn aus?«
    Sebastian musste nicht an sich herabschauen, um es zu wissen.
    »Ich bin gestürzt!«
    »Das sehe ich!«, antwortete der Knecht grinsend. »In der Küche hängt gewiss noch ein Kessel mit warmem Wasser über dem Herd. Ich hole eine Küchenmagd, damit sie Euch einen Eimer davon und frische Kleider in den Stall bringt, denn so könnt Ihr das Haus nicht betreten. Schade um Eure schönen Sachen! Die wird keine Waschmagd mehr sauber bringen – und zerrissen sind sie auch.« Der Mann hielt sich demonstrativ die Nase zu und eilte davon, bevor Sebastian handgreiflich werden konnte.
    Es kam jedoch noch schlimmer, denn der Mann weckte nicht nur eine der Mägde, sondern mit seinen lauten Rufen gleich das gesamte Gesinde des Laux-Anwesens einschließlich des erst siebenJahre alten Spülmädchens. Die Leute versammelten sich neugierig auf dem Hof und starrten Sebastian an.
    »Das muss aber ein Mordsrausch gewesen sein!«, flüsterte ein Lehrling einem anderen zu. Einige lachten, doch die meisten sahen den jüngeren Laux-Bruder mitleidig an. Sie mochten ihn, auch wenn sie ihn nicht ernst nahmen.
    Dies schien auch sein Vater zu denken, der zusammen mit Damian auf den Hof trat und Sebastian mit einem Ausdruck betrachtete, der zwischen geheucheltem Mitleid und Spott schwankte. »Bei Gott, mein Junge, ich hätte dich für vernünftiger gehalten, als dir ein Vorbild an solchen Säufern wie Anton Schrimpp und dessen Anhang zu nehmen.«
    Man konnte dem Bürgermeister eine gewisse Enttäuschung ansehen. Es schien das Kreuz eines jeden Handelsherrn in dieser Stadt zu sein, dass die jüngeren Söhne über die Stränge schlugen und sich oft zu Taugenichtsen entwickelten, während der Erstgeborene fast wie von selbst in die Geschäfte des Vaters hineinwuchs.
    Damian schien ähnlich zu denken und bedachte seinen Bruder mit etlichen drastischen Ausdrücken. Zuletzt hielt er ihm vor, dass er die ihm aufgetragene Arbeit geschwänzt habe.
    Sebastian ließ die Strafpredigt ohne Gegenwehr über sich ergehen und rührte sich auch nicht, als Damian ihm androhte, ihn die versäumten Pflichten nacharbeiten zu lassen. Stattdessen ging er auf seinen Vater zu, der ihn jedoch schon nach wenigen Schritten aufforderte, sich von ihm fernzuhalten. »Mein Sohn, du magst dich vielleicht an den Gestank, den du verbreitest, gewöhnt haben. Doch meine Nase reagiert empfindlich darauf.«
    »Vater, ich muss dir dringend etwas sagen.« Sebastian sah sich um und bemerkte zufrieden, dass sich das Gesinde weit genug fernhielt.
    Leise sagte er: »Ich habe einen Schurken verfolgt, der um Willingers Haus

Weitere Kostenlose Bücher