Die Pilgerin
Antwort, blieb aber im Hof stehen, bis Otfried mit seinen Knechten abgezogen war. Dann schüttelte er denKopf. »Tilla soll nicht bei Sinnen sein? Langsam halte ich das für ein Gerücht, das der junge Willinger in die Welt gesetzt hat.«
Während Damian ungerührt von dem ganzen Aufruhr seiner Arbeit nachging, hatte Sebastian sich zu seinem Vater gesellt und blickte ihn ängstlich an. »Was könnte ihr zugestoßen sein?«
»Weiß ich es?«, antwortete Laux mit einem Achselzucken. Er wollte ins Haus zurückkehren, blieb aber kurz vor der Tür stehen und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Jetzt ist mir klar, wen du vorgestern Nacht bei Willinger beinahe gefangen hast. Das war Tilla! Sie hat das Kästchen mit dem Herzen ihres Vaters geholt. Bei Gott, welch ein verrücktes – nein, welch ein mutiges Mädchen. Sie ist glatt imstande, den Weg nach Santiago de Compostela anzutreten.« Für einen Augenblick schüttelte er ungläubig den Kopf, drehte sich dann mit einem seltsamen Lächeln zu seinem jüngeren Sohn um und musterte ihn von oben bis unten.
Der Junge hatte gute Anlagen, dessen war Laux sich sicher, doch solange er im Schatten seines älteren Bruders stand, würde er niemals lernen, selbst Verantwortung zu tragen. Mit seiner Manie, hinter allen möglichen Handlungen eine Verschwörung gegen die Stadt und den Bürgermeister zu sehen, musste Sebastian über kurz oder lang sich selbst schaden. Gürtlers Tod hatte die Opposition in Tremmlingen kopflos gemacht und es würde lange dauern, bis wieder ein ernsthafter Rivale im Kampf um die Macht auftauchen mochte. Wahrscheinlich würde dies erst während Damians Amtszeit passieren. Auch seinem Sohn würde es nicht erspart bleiben, mit einem starken Rivalen um die Führung der Stadt ringen zu müssen. In dem Fall sollte Sebastian der Mann sein, der seinem Bruder beistehen konnte. Dazu aber musste er erst einmal erwachsen werden.
Laux trat auf seinen Sohn zu, legte ihm schwer die Hand auf dieSchulter und sah ihm in die Augen. »Ich habe einen Auftrag für dich!«
»Soll ich herausfinden, mit wem Gürtlers Freunde verkehren?« Sebastians Augen leuchteten hoffnungsfroh auf.
Sein Vater schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, mein Junge. Diese Verschwörung – falls sie nicht nur in deiner Phantasie existiert hat – dürfte zusammengebrochen sein. Jetzt noch Misstrauen zu schüren wäre der falsche Weg. Du sollst etwas anderes tun, nämlich Tilla folgen und sie finden.«
Das war nicht unbedingt ein Auftrag, der Sebastian zusagte. »Wäre das nicht eher die Aufgabe ihres Bruders?«, fragte er mit schief gezogenem Mund.
»Ich sagte, du wirst es tun! Und wenn du sie gefunden hast, wirst du sie an jeden Ort begleiten, der ihr Ziel ist, selbst wenn es wirklich das Grab des heiligen Jakobus sein sollte. Du wirst sie beschützen und dafür sorgen, dass ihr nichts zustößt!«
Sebastian starrte seinen Vater entgeistert an. »Ich soll nach Santiago pilgern? Das wird Damian aber gar nicht gefallen, denn er braucht mich im Geschäft.«
»Er wird einige Monate ohne dich auskommen können. Vielleicht ist es nicht einmal so schlecht, wenn ihr euch eine Zeit lang nicht seht. Aber jetzt komm ins Haus und mach dich reisefertig. Wenn du rasch aufbrichst, schaffst du heute noch anderthalb bis zwei Meilen. Bedenke, das Mädchen hat zwei Tage Vorsprung.«
XV.
Otfried Willinger kehrte als Opfer widersprüchlichster Gefühle nach Hause zurück und setzte sich in sein Kontor. Seine Gedanken liefen so wirr durcheinander, dass er den Inhalt derGeschäftsbriefe, die ein Kurier ihm überbracht hatte, nicht erfassen konnte. Statt sich zu konzentrieren blickte er immer wieder auf und starrte durch das kleine, vergitterte Fenster ins Freie. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass Tilla sich bei Laux versteckt hielt, und spürte nun Enttäuschung und noch mehr Wut darüber, dass er sich vor dem Bürgermeister bis auf die Knochen blamiert hatte.
»Laux soll verflucht sein und Tilla kann gleich ganz der Teufel holen. Soll sie doch in der Wörnitz, in der Donau oder sonst einem Gewässer ertrunken sein!« Noch während er es sagte, wusste er, dass das keine Lösung war. Wenn seine Schwester ums Leben gekommen war, würden seine Neider ihm eine Mitschuld daran geben und vielleicht sogar den Hohen Rat dazu bringen, sich mit der überstürzten Hochzeit zu beschäftigen. Eine Rüge und ein Ausschluss aus dem Rat für eine gewisse Zeit wären ihm sicher. Vielleicht könnte Laux
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