Die Pilgerin
keine Nacht mehr ruhig schlafen können, bis die entwendete Kassette wieder in seiner Truhe lag.
DRITTER TEIL
Die Pilgergruppe
I.
Tilla stand im Schatten des Münsterturms und blickte auf das Gewimmel der Menschen, die sich auf dem Vorplatz ballten. Die meisten von ihnen waren Pilger. Die einen hatten ihre Wallfahrt beendet und wollten im Münster von Ulm dem Herrgott, Christus und allen Heiligen noch einmal für die glückliche Rückkehr danken, andere versammelten sich hier, um zu fernen Zielen aufzubrechen. Zwischen den Wallfahrern drängten sich fliegende Händler, die alles verkauften, was die Peregrine ihrer Ansicht nach benötigten, angefangen von Kreuzen, die man sich an Lederbändern um den Hals hängen konnte, bis hin zu Zetteln mit Bibelsprüchen, die im Münster gesegnet und mit Weihwasser bespritzt worden waren. Außerdem trieben sich auch Diebe herum. Tilla hatte ihr Geld gut unter ihrer Kleidung auf der Haut geborgen und nur ein schmales Beutelchen mit wenigen Münzen offen an ihrem Gürtel hängen, doch direkt vor ihr schnitt ein Kerl einem baumlangen Pilger mit einem scharfen Messer die am Gürtel hängende Geldkatze ab.
»Vorsicht, dein Beutel!«, schrie Tilla.
Der Pilger zuckte zusammen, griff nach unten und entdeckte das Fehlen seines Geldes. »Haltet den Dieb!«, schrie er so laut, dass es vom Münster zurückhallte.
Sofort rückten die Leute zusammen und der Langfinger fand sich in der Menge eingekeilt. Tilla zeigte auf den Mann. »Das ist er. Ich habe gesehen, wie er den Beutel abgeschnitten hat.«
»Das werden wir gleich feststellen.« Der Bestohlene, der Tilla um mehr als Haupteslänge überragte, schob die Leute, die zwischen ihm und dem Dieb standen, mit einer Leichtigkeit auseinander, als wären es Getreidehalme, und packte den Kerl. Dieser hatte seine Beute unauffällig fallen gelassen und versuchte,sie mit dem Absatz zur Seite zu schieben. Eine dicke Frau mit hochrotem Kopf beobachtete ihn jedoch dabei und hob den Beutel auf.
»Ist das deiner?«, fragte sie den hochgewachsenen Mann.
»Und ob das der meine ist! Schaut her! Es sind genau die Schnüre, mit denen ich ihn festgemacht hatte.« Er hielt die Börse an seinen Gürtel, damit alle sehen konnten, dass er Recht hatte. Dafür musste er den Dieb jedoch loslassen. Dieser nützte die Chance, zwängte sich durch die Menge und verschwand im Gewirr der Gassen.
Tilla wollte aus einem Impuls heraus hinter dem Langfinger her laufen, fühlte aber die Hand des Bestohlenen auf ihrer Schulter. »Den zu verfolgen, ist sinnlos. Der Kerl ist wie eine Ratte, die alle Schlupflöcher kennt. Bis wir uns durch die Leute gewühlt haben, ist der längst verschwunden.«
»Ich fürchte, Ihr habt Recht, Herr.« Tilla schnaubte, um den Ärger über die Dreistigkeit des Langfingers loszuwerden, sagte sich dann aber, dass es nicht ihre Sache war.
Als sie weitergehen wollte, hielt der Mann sie auf. »Du hast dir heute meinen Dank erworben, Kleiner. Durch meine Unvorsichtigkeit hätte ich den Weg zum Grab des Apostels als Bettler zurücklegen müssen, und ich glaube nicht, dass mir das gefallen hätte.« Er lachte erleichtert auf und fasste Tilla um die Schulter. »Komm, Junge, lass uns einen guten Schluck Wein auf meine Kosten trinken! Dann suchen wir uns eine Pilgergruppe, die von einem zuverlässigen Priester geführt wird. Ich nehme doch an, dass du auch nach Santiago wallfahren willst.« Das Letzte klang etwas hoffnungsvoll fragend, denn von Ulm aus brachen Pilger auch zu anderen heiligen Stätten auf.
Tilla hatte sich bereits am Tag zuvor die Ausrüstung eines Santiago-Pilgers besorgt, die aus einem festen, knielangen Kittel,zwei Paar Beinkleidern – ein dünnes für warmes und das dickere für kaltes Wetter –, einem breitkrempigen Hut und dem Pelerine genannten Umhang bestand, der vor Regen und Kälte schützen sollte. Ein paar Dinge gingen ihr noch ab, doch unter dem Hemd direkt auf ihrer Haut trug sie in einer kleinen Ledermappe ihr wertvollstes Gut, den Pilgerbrief, den ihr einer der frommen Mönche des Zisterzienserordens ausgestellt hatte, und zwar auf ihre Bitten hin auf den Namen Ottilie Willinger. Zwar war sie in der Verkleidung eines jungen Mannes zu ihm gekommen, doch sie hatte ihm erklärt, ihre Schwester wolle diese lange Pilgerfahrt antreten und benötigte die Bescheinigung wegen eines Gelübdes, damit sie beweisen könne, ihr Ziel erreicht zu haben. Es bedrückte sie immer noch, dass sie den Mönch hatte belügen müssen.
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