Die Pilgerin
langegeblieben, junger Herr, sondern hat sich nur ein wenig zu essen geben lassen und ist dann wieder fortgegangen«, setzte sie treuherzig hinzu.
Da Otfried in jeden Winkel geschaut hatte, kam er gar nicht auf den Gedanken, seine Schwester hätte so etwas Wichtiges wie Gürtlers Schatulle bei ihrer Kinderfrau versteckt. Er stellte noch ein paar Fragen und verließ das kleine Haus. Für sein Gefühl hatte er genug erfahren. Tilla schien wirklich so verrückt zu sein, das Herz des Vaters bis nach Santiago bringen zu wollen. Seines Erachtens würde sie nicht einmal ein Achtel des Weges schaffen. Aber dennoch musste er rasch handeln, bevor sie sich die wertvollen Dokumente von irgendwelchen Leuten rauben ließ.
Da er nicht selbst hinter ihr herlaufen konnte, musste er jemand schicken, der ihm die Schatulle unversehrt zurückbrachte. Rigobert Böhdinger war nicht zu trauen, aber er entschloss sich dennoch, ihn auf Tillas Spur zu setzen. Allerdings brauchte der junge Mann einen Begleiter, der ihm auf die Finger sah, und Otfried wusste, wen er mit dieser Aufgabe betrauen konnte. Zu Hause angekommen rief er nach Ilga und schickte sie mit einem Auftrag fort.
Eine knappe Stunde später stand Anton Schrimpp vor ihm. Der Sohn des Ratsherrn mochte ein Freund feuriger Weine sein, aber er war in seiner Jugendzeit Otfrieds Vertrauter bei allen Geheimnissen und Streichen gewesen. Zusammen hatten sie den ersten Becher Wein geleert und in einer abgeschiedenen Kammer spielerisch Dinge miteinander getrieben, für die er jetzt das warme Ehebett benutzte. Ihre Freundschaft hatte sich all die Jahre gehalten, und daher glaubte Otfried, den richtigen Mann gewählt zu haben. Am liebsten hätte er Anton allein hinter Tilla hergeschickt, doch war zu befürchten, dass dieser angesichts eines gut gefüllten Weinkellers seine Aufgabe vergessenwürde. So aber konnte Rigobert darauf Acht geben, dass Anton nicht übermäßig zechte, und dieser seinerseits Rigobert überwachen, damit dieser sich nicht zu sehr um die verfängliche Kassette kümmerte. Er legte Anton wie in alten Zeiten den Arm um die Schulter und zog ihn in eine Ecke.
»Du musst mir einen Gefallen erweisen, mein Guter. Wie du vielleicht schon gehört hast, ist meine Schwester verschwunden. Sie ist nach dem Unglück, das sie getroffen hat, nicht ganz richtig im Kopf und ich nehme an, dass ihr verwirrter Geist sie drängt, nach Spanien zu pilgern. Du musst ihr folgen und sie zurückbringen.«
Der junge Schrimpp hatte wenig Lust, auf die angenehmen Abende in der Krone zu verzichten, und zog ein langes Gesicht. »Kann Rigobert das nicht übernehmen?«
»Rigobert wird mit dir kommen. Aber wie du weißt, liebt man meine Schwester im Hause Gürtler nicht besonders, darum habe ich Angst, er könne zu früh aufgeben und wieder umkehren. Sie kann doch nichts dafür, dass ihr Geist gelitten hat, und ihr könnt nicht damit rechnen, dass sie den kürzesten Weg nimmt. Ach ja, noch etwas: Sorge dafür, dass alles, was sie bei sich trägt, unversehrt zu mir zurückgebracht wird. Es geht mir vor allem um eine eiserne Schatulle, die sie mir gestohlen hat. Diese enthält Papiere, die nicht in die falschen Hände geraten dürfen! Insbesondere Laux könnte sie verwenden, um mich und auch deinen Vater ins Unglück zu stürzen. Sorg auf jeden Fall dafür, dass Rigobert seine Nase nicht in die Unterlagen hineinsteckt! Du musst mir die Kassette unversehrt übergeben, hörst du?«
Der jüngere Schrimpp sah ihn bestürzt an, denn er hatte zu Hause so manches aufgeschnappt, das nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war. »Wenn der Inhalt der Schatulle so gefährlichist, solltest du selbst Tilla folgen! Ich kann ja mit dir kommen.«
»Mich halten wichtige Pflichten in der Stadt fest. Darum habe ich dich rufen lassen. Immerhin bist du mein bester Freund und der Einzige, dem ich sogar mein Leben anvertrauen würde.« Letzteres war zwar gelogen, doch Otfried wusste, wie er Anton zu behandeln hatte. Der junge Bursche straffte seinen Rücken und kniete vor ihm nieder, als wäre er ein hoher Herr.
»Du kannst dich auf mich verlassen, Otfried! Ich bringe dir das Ding zurück.«
»Unbeschädigt und ungeöffnet!« In Otfrieds Stimme schwang eine unmissverständliche Warnung mit. Ihn ärgerte nun doch, dass er sich auf jemand anderen verlassen musste, doch er konnte nicht an zwei Orten zugleich sein.
Während Otfried Anton Schrimpp seine Anweisungen gab, starb er innerlich tausend Tode. Er wusste, er würde
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