Die Pilgerin
ihn dann sogar zwingen, die Wallfahrt nach Santiago anzutreten.
Der Gedanke brachte ihn auf das verschwundene Kästchen mit dem Herzen seines Vaters. War Tilla so verrückt, sich selbst auf diese Pilgerfahrt begeben zu wollen? Doch dafür hätte sie nicht nur das Herz des Vaters, sondern auch Geld gebraucht.
Ihn überlief es siedend heiß. In ihrer Kammer waren die Ersatzschlüssel versteckt, und er selbst hatte ihr von den geheimen Riegeln erzählt, mit denen die Geldtruhe des Vaters zusätzlich geöffnet werden musste. Zitternd erhob er sich, trat in das Nebenzimmer und entriegelte die Truhe. Als er den Deckel öffnete, spürte er, wie sein Magen sich verknotete. Gürtlers Eisenschatulle war weg. Das konnte nur Tilla getan haben! Welchen Grund mochte sie haben, den Kasten zu stehlen? Tausend Gedanken schossen durch Otfrieds Kopf, doch sie erschienen ihm allzu abwegig. Dann fiel ihm ein, dass sein Schwager in seinerHochzeitsnacht von dieser Schatulle gesprochen haben konnte. Doch was hatte Tilla darin gesucht? Den Brief des bayerischen Emissärs Georg von Kadelburg, um ihn dem Bürgermeister zu überbringen? Aber das hätte sie sofort getan und sich nicht mit dem Ding versteckt.
Doch was auch immer sie damit vorgehabt hatte, zählte nicht mehr, denn in Tillas Hand war die Schatulle eine tödliche Waffe gegen ihn. Gerieten das Schreiben des Bayern und der Schwurbrief in falsche Hände, würden sein Kopf und die der Mitverschworenen rollen. Otfried erinnerte sich daran, dass die von ihm selbst angefertigte Rohschrift des neuen, nie beglaubigten letzten Willens seines Vaters ebenfalls in dem Kästchen lag. Wenn Tilla diese zu Gesicht bekam und entdeckte, wie sehr sie bei ihrer Mitgift wie auch mit ihrer Heirat betrogen worden war, würde sie keine Rücksicht mehr kennen.
»Ich muss diesem kleinen Miststück folgen und es einfangen!« Otfried schlug den Deckel der Truhe zu und überlegte schon, was er für die Reise benötigte. Dann hielt er inne. Gürtler war nun schon über eine Woche tot und die Verschwörer würden sich bald treffen, um einen neuen Anführer zu bestimmen. Da die Leute wussten, dass er Gürtlers Papiere an sich genommen hatte, würde der neue Anführer ihm die Geheimkorrespondenz mit Georg von Kadelburg abverlangen. Dieser Forderung konnte er zwar entkommen, wenn er Tilla folgte, aber gleichzeitig würde er das Misstrauen der Verschwörer erregen und wohl spätestens bei seiner Rückkehr nach Tremmlingen der Klinge eines Meuchelmörders zum Opfer fallen.
Da er auch dann mit Mord rechnen musste, wenn er die verhängnisvollen Papiere nicht übergeben konnte, gab es für ihn nur einen einzigen Weg: er selbst musste der neue Anführer der Schwurbrüder werden. Zum Glück war er als Letzter dem Bundbeigetreten und kannte daher alle anderen Mitglieder. Auch wenn es nicht leicht sein würde, sich gegen Schrimpp und einige andere durchzusetzen, so konnte er doch auf die Verwandtschaft mit Gürtler verweisen und darauf, dass dieser ihn in all seine Pläne eingeweiht hatte. Zudem hielt er mit seinem eigenen und Gürtlers Handelshaus mehr wirtschaftliche Macht in Händen als der Rest der Gruppe. Bei dieser Vorstellung straffte Otfried seinen Rücken, denn er sah sich schon als Vertreter der Bayernfreunde mit Georg von Kadelburg verhandeln und hohe Auszeichnungen und Ämter entgegennehmen. Dann erinnerte er sich wieder an seine Schwester und kam hart auf dem Boden der Tatsachen auf. Ganz gleich, wo Tilla steckte, sie musste gefunden und die Schatulle zurückgebracht werden.
In dem Augenblick kam ihm eine Idee und er ärgerte sich, dass er nicht schon früher auf den Gedanken gekommen war. Tilla hatte oft bei ihrer alten Kindsmagd Zuflucht gesucht, wenn es Ärger gab, und dort würde sie wohl auch jetzt zu finden sein. Otfried rief zwei kräftige Knechte zu sich und machte sich auf den Weg.
Er musste nicht lange an die Tür der Witwe Heisler klopfen, denn diese machte ihm neugierig auf und sah ihn mit schräg gehaltenem Kopf an. »Ist Tilla bei dir?«
»Nein, leider nicht!« Elsa Heisler trat zur Seite, damit der Mann ins Haus kommen und sich umsehen konnte. Otfried durchsuchte das Häuschen von oben bis unten, doch die alte Frau hatte die Wahrheit gesprochen. Von Tilla gab es nicht die geringste Spur.
»Aber sie ist bei dir gewesen!«, setzte er ärgerlich sein Verhör fort.
Die alte Elsa wagte nicht zu leugnen und bekannte daher, dass Tilla sie in der Nacht aufgesucht hätte. »Sie ist aber nicht
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