Die Pilgerin
einen weiteren Becher hinzustellen.
»Du solltest den Wein im Übermaß meiden, mein Sohn. Eine Pilgerfahrt ist eine ernsthafte Sache, denn es geht schließlich umdein Seelenheil.« Ein Geistlicher in einer langen, braunen Kutte war neben der Gruppe stehen geblieben und blickte missbilligend auf die vollen Becher.
»Falls ihr noch Anschluss an eine Pilgergruppe sucht, so seid ihr bei mir richtig. Ich suche noch drei Leute, damit die Zahl voll wird«, setzte er dann etwas freundlicher hinzu.
»Welche Zahl?«, fragte Tilla.
»Die Zwölf, die Zahl der heiligen Apostel! Mit genauso vielen will ich gen Spanien wandern.«
In Tillas Augen war der Prediger zu sehr von sich überzeugt und sie wollte ihm schon den Rücken zukehren. Ambros hingegen dachte kurz nach, winkte dann dem Wirt, ein viertes Trinkgefäß zu bringen, und schenkte dem Mann ein.
»Trinkt, Vater! In Maßen genossen ist Wein doch eine gute Labe.« Der Geistliche zögerte kurz, griff dann aber zu und stieß mit dem Goldschmied an. »So ist es! Auch unser Herr Jesus Christus trank gelegentlich Wein und sorgte dafür, wie man von der Hochzeit von Kana her weiß, dass auch seine Jünger nicht darben mussten.«
Tilla lächelte, denn der Zug, den der Geistliche aus seinem Becher nahm, bewies, dass auch er es nicht gewohnt war zu darben. Seine ersten Worte hatten wohl nur dazu dienen sollen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie musterte den Mann, der kaum größer war als sie und sehr hager wirkte. Sein von der Sonne verbranntes Gesicht mit den vielen kleinen Falten konnte ebenso zu einem Mann unter vierzig wie auch zu jemand gehören, der knapp vor dem Greisenalter stand. Helle Augen leuchteten wie in einem inneren Feuer und bewiesen, dass er seinen Glauben und seine Pflichten als Pilgerführer ernst nahm. Trotzdem war Tilla sich nicht sicher, ob sie sich seiner Gruppe anschließen sollte.
Schließlich traf Ambros auch für sie die Entscheidung. »Wirsind tatsächlich auf der Suche nach einer Schar in Christo, mit der wir gen Spanien ziehen können, ehrwürdiger Bruder.«
Der Geistliche nickte kurz und schlug das Kreuz. »So sei es! Ihr könnt mich Vater Thomas nennen. Wir treffen uns beim Klang der Glocke am Nordeingang, um unseren Herrgott, unseren Heiland, die Jungfrau Maria und den Apostel Jakobus um eine gute Fahrt zu bitten, und brechen anschließend auf.«
»Dann werde ich wohl nicht mitkommen können. Ich muss nämlich noch einiges besorgen. Hab Dank für den Wein.« Tilla nickte Ambros zu und wollte sich entfernen.
Der Riese schien jedoch einen Narren an ihr gefressen zu haben, denn er hielt sie fest. »Bis die Glocke läutet, haben wir noch Zeit, alles einzukaufen, was du brauchst, mein Junge. Du hast mir heute Glück gebracht und das ist für mich ein Zeichen des Herrn, dass wir gemeinsam reisen sollen. Das sagt Ihr doch auch, ehrwürdiger Vater?«
»So ist es!«, antwortete der Pilgerführer lächelnd. »Glück können wir auf unserer Reise gebrauchen. Sie ist nicht ganz ungefährlich, denn die Herren von Frankreich und England bekriegen einander heftig, und nicht immer machen ihre Scharen vor ehrbaren Pilgern Halt.«
Nach diesen Worten sah Hedwig so aus, als würde sie am liebsten heimkehren, doch der Gedanke an ihre Tochter und ihren Enkelsohn, um deretwillen sie den Schwur geleistet hatte, schien ihre Bedenken wieder zu zerstreuen. Sie wandte sich an Tilla und tippte ihr auf die Schulter. »Geh schon, Junge. Sonst brauchst du wirklich länger als bis zum nächsten Glockenschlag, bis du alles beieinander hast.«
Tilla hätte froh sein sollen, weil ihre Verkleidung so überzeugend wirkte. Stattdessen schämte sie sich, die guten Leute belügen zu müssen, und nahm sich vor, Vater Thomas’ Pilgergruppe bei passender Gelegenheit wieder zu verlassen, um als Frau weiterziehen zu können. Fürs Erste aber kamen ihr die Leute gerade recht, denn sollte ihr Bruder wirklich jemand ausgesandt haben, um sie zu suchen, würde dieser wohl kaum einen jungen Mann beachten, der mit Freunden reiste.
II.
Vater Thomas’ Pilgergruppe bestand von außen gesehen aus neun Männern und drei Frauen. Außer Hedwig gehörten ihr noch Zwillingsschwestern an, schmale, farblose Geschöpfe, die einander so ähnlich sahen, dass die eine ein graues und die andere ein waidgefärbtes Kopftuch trug, damit man sie auseinanderhalten konnte. Sie mochten die dreißig vor wenigen Jahren überschritten haben, wirkten aber noch nicht wie Matronen. Ihre Gesichter konnte man
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