Die Pilgerin
Vorerst wollte sie jedoch nicht als Frau auftreten, denn sie kannte ihren Bruder und war fest davon überzeugt, dass er nach ihr forschen ließ. Auf diese Weise hoffte sie, sich ihren Verfolgern entziehen zu können.
Da sie der Kraft des hünenhaften Mannes nichts entgegenzusetzen hatte, ließ sie sich von ihm zu einem Stand schieben, an dem ein Schankwirt Wein an die Pilger verkaufte. »Zwei Becher vom Besten!«, rief er, dann sah er Tilla freundlich an. »Also, mein Name lautet Ambros. Ich komme aus Neuburg und will nach Santiago. Im letzten Jahr, als ich krank darniederlag und alle bereits glaubten, ich würde der Ewigkeit entgegengehen, ist mir nämlich der heilige Apostel im Traum erschienen und hat gesagt, ich würde gesund werden, wenn ich gelobe, zu seinem Grab zu pilgern. Im Traum schwor ich dem Heiligen, in diesem Frühjahr aufzubrechen, und als ich erwachte, ging es mir bereits besser. Ich war in erstaunlich kurzer Zeit wieder auf den Beinen und nun mache ich mich auf den Weg, mein Versprechen zu erfüllen.«
Die rotgesichtige Frau war ihnen gefolgt und hatte sich zu ihnen gesetzt. »Ich reise, weil der heilige Apostel Jakobus meine Tochter aus höchster Kindsnot errettet hat. Wir glaubten sie und ihr Kind – ihr erstes! – bereits verloren, doch als ich das Gelübde sprach, tat der Apostel ein Wunder und sie brachte ihren Sohn lebend und heil zur Welt. Ich heiße übrigens Hedwig.«
Beide sahen jetzt Tilla neugierig an, um zu erfahren, aus welchem Grund sie auf Pilgerschaft gehen wollte. Sie senkte ihren Kopf, so dass Stirn und Nase im Schatten der Hutkrempe lagen. »Mein Vater hat mich vor seinem Tod gebeten, diese Wallfahrt für ihn zu unternehmen. Er wollte es eigentlich selbst tun, aber er vermochte es nicht mehr.«
Ambros klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. »Brav, mein Junge! Das Vermächtnis des Vaters muss man in Ehren halten. Aber du hast deinen Namen noch nicht genannt.«
»Ich heiße …« Für einen Augenblick geriet Tilla in Panik, weil ihr in der Schnelle kein passender Name einfallen wollte, hob dann aber lächelnd den Kopf. »Otto, Herr Ambros.«
Dabei dachte sie daran, dass sie es Gürtler zu verdanken hatte, auf diesen Namen gekommen zu sein, denn er hatte darauf bestanden, sie Ottilie zu nennen. Von diesem Namen zu Otto war es wirklich nicht weit.
»Also, das Herr Ambros kannst du dir sparen. Ich bin ein ehrlicher Goldschmied und keiner von den Leuten, vor denen unsereins buckeln muss.« Ambros begleitete diese Worte mit einem weiteren Schulterklopfen, das Tilla bedauern ließ, keine Knochen aus Eisen zu haben.
»Du bist Goldschmied? Bei deiner Kraft hätte ich dich eher für einen Hufschmied gehalten!«
»Schwächlich bin ich gerade nicht, das stimmt. Darum habe ich auch gedacht, meine Erscheinung würde Diebe und Beutelschneidervon mir fernhalten. Aber die sind dreister, als ich es mir habe vorstellen können. Zum Glück hast du verhindert, dass der Kerl mich um mein Reisegeld erleichtern konnte. Sonst hätte ich wirklich betteln gehen müssen.« Ambros lachte dabei, als hielte er das Ganze für einen guten Scherz.
Tilla betrachtete ihn jetzt genauer. Zuerst hatte sie ihn für einen großen, ungeschlachten Menschen gehalten, doch jetzt sah sie, dass er zwar groß, aber durchaus wohlgestaltet war. Seine breiten Schultern wiesen auf körperliche Kraft hin, und da er die Pilgerpelerine nach hinten geschlagen hatte, konnte sie sehen, dass er schlank war ohne hager zu wirken. Auch sein Gesicht war männlich hübsch, doch am interessantesten fand sie seine Hände. Sie waren groß, aber schmal, und hatten lange, gelenkige Finger, die er für sein Gewerbe wohl auch benötigte. Im Großen und Ganzen schien er ein ruhiger, ehrlicher Bursche knapp unter dreißig zu sein und so zuverlässig, wie man sich ihn als Reisebegleiter wünschen konnte.
Hedwig war um einiges älter und reichte Ambros kaum bis zur Brust. Sie erschien Tilla etwas kurzatmig, was ihrer Redefreude keinen Abbruch tat. Sie verwickelte Ambros in ein längeres Gespräch über gemeinsame Bekannte. Sie stammte aus dem Weiler Dittelspoint und war öfters in Neuburg auf dem Markt gewesen. Sie wunderte sich sogar, dass sie beide nichts von ihren jeweiligen Vorhaben erfahren hatten, das Grab des Apostels aufzusuchen. Es war deutlich zu sehen, dass Hedwig sich Ambros anschließen wollte, und ihm schien es zu gefallen, mit jemand aus seiner Heimat zu pilgern, denn er winkte dem Schankwirt zu, ihnen einen Krug Wein und
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