Die Pilgerin
nicht hübsch nennen, denn sie waren so leblos, als hielten sie den Blick ständig in sich gekehrt. Wie Tilla erfuhr, wollten sie nach Santiago pilgern, um für die Seelen ihrer Ehemänner zu beten, die im letzten Jahr auf einer gemeinsamen Handelsreise von Räubern überfallen und ermordet worden waren und daher nicht die Gnade der letzten Beichte und der heiligen Ölung empfangen hatten.
Auf Tilla wirkten sie schwach und kränklich. Daher konnte sie sich nicht vorstellen, wie Anna und Renata die lange Fußreise überstehen wollten, zumal es ihre Absicht war, den größten Teil barfuß zurückzulegen. Tilla selbst hatte sich die Ratschläge zunutze gemacht, welche die alte Elsa und einige erfahrene Wallfahrer hier in Ulm ihr gegeben hatten, und sich für festes Schuhwerk aus Eselshaut entschieden, das steinigen Strecken weitaus besser widerstand als Schweins- oder Rindsleder.
Ambros und Hedwig waren wie sie der Ansicht, dass das Geld für die Fußbekleidung gut angelegt sei, denn sie hatten ebenfalls mit Leuten sprechen können, die bereits zum Grab des heiligen Apostels ins ferne Galizien gepilgert waren.
Vater Thomas versuchte Anna und Renata ihr Vorhaben auszureden, gab aber bald auf, zumal diese von ihren Begleitern unterstützt wurden. Der eine hieß Hermann und schien der Neffe der Schwestern zu sein, und der zweite nannte sich Robert. Dieser war Hermanns Freund und seinen Worten zufolge Schreiber bei dessen Vater, einem wohlhabenden Handelsherrn in Ulm. Sie hatten keinen inneren Antrieb für diese Reise, sondern traten die Wallfahrt nur an, um Anna und Renata zu beschützen.
Tilla beobachtete die beiden eine Zeit lang und hätte einen Goldgulden gegen einen Pflaumenkern gewettet, dass die beiden Männer alles daransetzen würden, die ihnen anvertrauten Frauen so bald wie möglich zum Aufgeben zu bewegen. Die vier hatten sich als Erste Vater Thomas angeschlossen, und Hermann, ein mittelgroßer, untersetzter Bursche mit rundem Kopf, schien sich darauf einiges einzubilden, denn er führte sich auf, als sei er der Stellvertreter des Pilgerführers. Kaum waren Tilla, Hedwig und Ambros zu der Gruppe getreten, wies er auch schon auf den Goldschmied.
»He, der Lange da kann gleich das Kreuz schleppen!«
Zu Tillas Verwunderung wollte Ambros es sofort schultern, doch Vater Thomas schritt ein. »Unser Pilgerkreuz wird von den Männern in der Reihenfolge getragen, in der sie in die Gruppe aufgenommen worden sind. Hermann fängt damit an!«
Der Bursche trat mit unglücklicher Miene zu dem mehr als mannslangen Kreuz, das an der Wand des Münsters lehnte, und prüfte sein Gewicht.
»Verdammt, ist das schwer!«, entfuhr es ihm.
Vater Thomas bedachte ihn mit einem strafenden Blick und hob die Hand, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. »Dank der Güte unseres Herrn im Himmel sind wir jetzt vollzählig und können aufbrechen. Nehmt also alles, was ihr bei euch habt, und folgt mir in das Münster! Wir werden den Innenraum dreimal umrunden und dabei jedes Mal das Paternoster beten. Danach erbitten wir von den ehrwürdigen Mönchen des Klosters den Segen und verlassen das Münster durch die Südpforte. Und nun nimm das Kreuz auf, Hermann!«
Vater Thomas ignorierte das enttäuschte Seufzen des Mannes und trat in das Münster. Da keiner der anderen ihm folgte, wollte Tilla sich ihm anschließen, doch Hedwig hielt sie am Ärmel fest.
»Wir schreiten in der Reihenfolge hinter dem ehrwürdigen Vater her, in der wir zu seiner Gruppe gestoßen sind. Als Erster geht der Kreuzträger.« Sie wies dabei auf Hermann, der mit wahrer Leidensmiene das eigenartig geformte Kreuz aufnahm. Es war aus einem einzigen Baum gehauen und sah eher aus wie ein großes Ypsilon mit nach oben verlängertem Längsbalken. Da Tilla ein Kreuz dieser Form noch nie gesehen hatte, wandte sie sich verwirrt an Hedwig. »Hat diese Form etwas zu bedeuten? Mir kommt es seltsam vor.«
»Das empfinde ich genauso. Doch ich habe mir sagen lassen, dass viele Pilger ein Kreuz wählen, das in einem Stück gefertigt ist und nicht genagelt werden muss. Nur hätte unser Vater Thomas eines nehmen können, bei dem die Äste gerader stehen.«
Tilla konnte nicht mehr antworten, denn nun war sie an der Reihe, das Münster zu betreten. Nach dem hellen Sonnenschein wirkte der Innenraum trotz der vor dem Altar brennenden Kerzen düster und bedrückend. Sie versuchte daher, ihre Gedanken auf die heiligen Worte zu lenken, die sie beten sollte, und drücktedabei die
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