Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
ähnlichen hellen Hemden und den immer gleichen leicht zerknitterten Chinos. Seine Garderobe war zwar einfach, doch er verstand es, sie auf lässig elegante Art zu tragen. Seine Lieblingsbeschäftigung war Lesen, aber im Gegensatz zu Tsukuru las er keine Romane, sondern zog philosophische Schriften und Klassiker vor. Außerdem liebte er Theaterstücke, vor allem griechische Tragödien und Shakespeare. Auch für japanische Theaterformen wie No und Bunraku interessierte er sich sehr. Er stammte aus der Präfektur Akita, hatte helle Haut und lange, schlanke Finger. Er vertrug keinen Alkohol (wie Tsukuru) und konnte (anders als Tsukuru) die Kompositionen von Mendelssohn und Schumann unterscheiden. Er war ausgesprochen schüchtern, und wenn mehr als drei Personen an einem Ort versammelt waren, war es ihm lieb, behandelt zu werden, als wäre er nicht da. Im Nacken hatte er eine vier Zentimeter lange, alte Narbe wie von einem Messer, die seiner harmonischen Erscheinung einen seltsamen Akzent verlieh.
Haida war im Frühjahr nach Tokio gekommen und wohnte in einem Studentenwohnheim in der Nähe des Campus. Freunde hatte er noch keine. Als die beiden sich zunehmend besser verstanden und mehr Zeit miteinander verbrachten, besuchte Haida Tsukuru auch in seiner Wohnung.
»Wie kommt es, dass du als Student in einem so schicken Apartment wohnst?«, fragte Haida beeindruckt, als er Tsukuru das erste Mal besuchte.
»Mein Vater hat eine Immobilienfirma in Nagoya und auch ein paar Objekte in der Innenstadt von Tokio«, erklärte Tsukuru. »Also lässt er mich in einem wohnen, das zufällig leer steht. Vor mir hat eine meiner Schwestern hier gewohnt. Als sie mit der Uni fertig war, bin ich eingezogen. Nominell gehört die Wohnung der Firma.«
»Seid ihr reich?«
»Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau. Wenn mein Vater nicht alle seine Buchhalter, Anwälte, Steuerberater und Unternehmensberater um sich hat, weiß er es wahrscheinlich selbst nicht. Arm sind wir jedenfalls nicht. Deshalb kann ich hier wohnen. Zum Glück.«
»Aber du hast kein Interesse an dieser Branche, oder?«
»Nein, bei diesen Geschäften muss man massenhaft Kapital von rechts nach links und links nach rechts bewegen. Man muss überhaupt ständig etwas bewegen. Dieses nervöse Hin und Her liegt mir nicht. Ich habe ein ganz anderes Temperament als mein Vater. Ich baue lieber massenhaft Bahnhöfe, auch wenn ich davon nicht reich werde.«
»Ein besonderes Interesse«, sagte Haida und lächelte.
Tsukuru zog nie aus dem Apartment in Jiyugaoka aus. Auch als er nach seinem Examen eine Stelle in der Zentrale einer Eisenbahngesellschaft in Shinjuku bekam, blieb er dort wohnen. Als er dreißig war, starb sein Vater, und die Wohnung wurde offiziell sein Eigentum. Offenbar hatte sein Vater ihm die Wohnung von vorneherein zugedacht. Der Mann seiner ältesten Schwester übernahm die väterliche Firma, und Tsukuru konnte von familiären Angelegenheiten unbehelligt seiner Arbeit in Tokio nachgehen. Noch immer besuchte er seine Heimatstadt selten.
Als er zur Bestattung seines Vaters nach Nagoya fuhr, überlegte er, wie er seinen vier Freunden begegnen sollte, falls sie davon erfahren hätten und ihm einen Beileidsbesuch abstatteten. Doch keiner ließ sich blicken. Tsukuru war erleichtert und traurig zugleich. Wieder einmal hatte er das eindeutige Gefühl, dass es endgültig vorbei war. Es würde nie mehr so sein wie früher. Immerhin waren sie mittlerweile alle in den Dreißigern. Kein Alter, um noch von einer vollkommenen harmonischen Gemeinschaft zu träumen.
Tsukuru hatte einmal in einer Zeitung oder Zeitschrift eine Statistik gesehen, derzufolge etwa die Hälfte der Menschen auf der Welt mit ihrem Namen unzufrieden war. Er jedoch gehörte zu der anderen, der glücklicheren Hälfte. Zumindest konnte er sich nicht erinnern, jemals unzufrieden mit seinem Namen gewesen zu sein. Oder besser gesagt, er konnte sich weder vorstellen, einen anderen Namen zu haben, noch, welches Leben er dann geführt hätte.
Sein Vorname Tsukuru wurde mit einem chinesischen Zeichen geschrieben, das man unter Umständen auch »Saku« aussprechen konnte. Doch solange es sich nicht um offizielle Dokumente handelte, verwendete er die japanische Silbenschrift, aus der die Aussprache »Tsukuru« eindeutig hervorging. So wurde er auch von seinen Freunden genannt. Nur seine Mutter und seine beiden Schwestern riefen ihn öfter Saku, weil es kürzer war.
Ausgewählt hatte den Namen sein Vater, der
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