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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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doppeldeutig.«
    Haida nickte schweigend.
    »Wenn das jedoch so ist, welchen Wert besitzt dann der freie Wille des Menschen?«
    »Eine ausgezeichnete Frage«, sagte Haida und lächelte still. Ein Lächeln wie das einer Katze, die in der Sonne schläft. »Ich kann sie dir noch nicht beantworten.«
    Mit der Zeit kam es so, dass Haida an Wochenenden bei Tsukuru übernachtete. Sie diskutierten bis spät in die Nacht, und Haida schlief im Wohnzimmer auf der zum Bett umfunktionierten Couch. Morgens machte er Kaffee und Omeletts. Mit dem Kaffee nahm er es sehr genau und brachte immer eine kleine elektrische Mühle voll duftender Kaffeebohnen mit. Seine Leidenschaft für Kaffeebohnen war der einzige Luxus, den er sich in seinem bescheidenen Leben gönnte.
    Tsukuru erzählte seinem neuen Herzensfreund viel von sich. Er war sehr offen zu ihm. Nur die Geschichte mit seinen vier Freunden in Nagoya behielt er für sich. Er brachte es einfach nicht über sich, von ihnen zu erzählen. Die Wunde in seinem Herzen war noch ziemlich frisch und tief.
    Meistens gelang es ihm jedoch, die vier zu vergessen, wenn er mit Haida zusammen war. Oder nein, »vergessen« war nicht der richtige Ausdruck. Der Schmerz darüber, von ihnen so unerbittlich verstoßen worden zu sein, lebte in ihm weiter. Allerdings hatte er sich zurückgezogen wie die Ebbe. Sein Schmerz hatte Gezeiten: Mitunter flutete er ganz nah heran bis vor seine Füße, dann wieder wich er weit zurück. So weit, dass er kaum noch zu sehen war. Tsukuru spürte, dass er dabei war, in Tokio Wurzeln zu schlagen. Sein neues Leben war einsam und anspruchslos, aber es war etwas im Entstehen. Die Zeit in Nagoya bekam eine andere Qualität und wurde allmählich zu etwas Vergangenem. Es war zweifellos seine neue Freundschaft mit Haida, die diesen Fortschritt bewirkte.
    Haida hatte zu allem eine Meinung, die er auch logisch darlegen konnte. Je öfter sie sich trafen, desto mehr Achtung empfand Tsukuru für seinen Freund. Auch wenn er nicht recht verstand, was Haida an ihm fand oder was ihn an ihm interessierte. Was auch immer es war, die beiden diskutierten so eifrig miteinander, dass sie oftmals darüber die Zeit vergaßen.
    Dennoch sehnte Tsukuru sich, wenn er alleine war, manchmal sehr nach einer Freundin. Er wünschte sich, eine Frau im Arm zu halten, sie zärtlich zu streicheln und den Duft ihrer Haut einzuatmen – ein natürliches Verlangen für einen gesunden jungen Mann. Aber wenn er sich vorstellen wollte, wie es war, mit einer Frau zu schlafen, tauchten stets Shiro und Kuro vor ihm auf. In seiner Fantasie waren sie stets zu zweit. Und Tsukuru wurde unweigerlich von Melancholie ergriffen. Warum mussten es noch immer die beiden sein? Sie haben mich skrupellos von sich gestoßen, dachte er. Sie wollten mich nicht mehr sehen und nicht mehr mit mir reden. Warum gehen sie mir trotzdem nicht aus dem Sinn? Tsukuru Tazaki war zwanzig Jahre alt, aber er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, nie eine geküsst, nie Händchen gehalten, nie eine Verabredung gehabt. Mitunter fragte er sich, ob er vielleicht ein tief gehendes Problem hatte. Vielleicht blockierte ein Hindernis den natürlichen Fluss seiner Psyche und zwang ihn zum Ausweichen, verbog ihn. Tsukuru konnte nicht beurteilen, ob das Zerwürfnis mit seinen vier Freunden diese Blockade hervorgerufen hatte oder ob sie auf eine natürliche Veranlagung zurückging.
    Als er an einem Samstag wieder einmal bis spät in den Abend mit Haida diskutierte, kam das Gespräch auf den Tod. Was bedeutete es, dass der Mensch sterben musste? Was bedeutete es, dass er mit der ständigen Aussicht auf den Tod leben musste? Sie sprachen hauptsächlich theoretisch über diese Frage. Aber Tsukuru hätte seinem Freund gern anvertraut, wie nah er dem Tod eine Zeit lang gewesen war und wie sehr diese Erfahrung ihn körperlich und geistig verändert hatte. Er hätte ihm auch gern die bizarre Landschaft geschildert, die er damals vor Augen gehabt hatte. Allerdings hätte er Haida dann in allen Einzelheiten erklären müssen, was diesen Zustand herbeigeführt hatte. Also überließ er das Wort wie meistens seinem Freund und hörte zu.
    Es war schon nach elf, als das Thema sich erschöpfte und Schweigen sich über den Raum senkte. Normalerweise wäre das die richtige Zeit gewesen, das Gespräch zu unterbrechen und schlafen zu gehen. Beide waren Frühaufsteher. Doch Haida blieb auf dem Sofa zusammengerollt liegen und schien intensiv über etwas nachzudenken. Nach

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