Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
einem Gast ins Gespräch. Der Mann, wahrscheinlich Mitte vierzig, war groß, hatte lange, schlaksige Beine, kurze Haare und eine Stirnglatze. Er trug eine Brille mit Metallrahmen, und sein Kopf war geformt wie ein Ei. Er war eine Woche zuvor mit einer Plastiktasche über der Schulter den Bergpfad hinaufgekommen und im Gasthof abgestiegen. Er trug immer eine Lederjacke, Jeans und Wanderstiefel. An kalten Tagen setzte er eine Wollmütze auf und band sich einen dunkelblauen Schal um. Er hieß Midorigawa. Zumindest hatte er sich mit diesem Namen und einer Adresse in Kogane-i in Tokio ins Hotelregister eingetragen. Offenbar war er ein gewissenhafter Mensch, denn er beglich pünktlich jeden Vormittag seine Rechnung vom Vortag.
    (Midorigawa – »grüner Fluss«. Und wieder jemand mit einer Farbe im Namen, dachte Tsukuru, sagte aber nichts und hörte weiter zu.)
    Der Mann, der sich Midorigawa nannte, verbrachte viel von seiner Zeit in der heißen Quelle, die im Freien lag. Er schlenderte durch die Umgebung, schmökerte, die Beine unter den wärmenden Kotatsu gestreckt, mitgebrachte Taschenbücher (meist anspruchslose Krimis) und trank abends genau zwei Go – knapp einen halben Liter – Sake. Nicht mehr und nicht weniger. Er war ebenso wortkarg wie Haidas Vater und sprach nur das Allernötigste, aber die Wirtsleute störten sich nicht daran, denn sie waren an diese Art von Gästen gewöhnt. Es waren meist sonderbare Menschen, die den Weg herauf in ihr abgelegenes Onsen fanden, und je länger sie blieben, desto mehr verstärkte sich diese Eigenschaft.
    Einmal badete der ältere Haida im Morgengrauen in der heißen Quelle am Bach, als Midorigawa wie zufällig vorbeikam und ihn ansprach. Offenbar hatte der junge Mann seit ihrer ersten Begegnung das Interesse des schweigsamen Gastes geweckt. Vielleicht hatte er gesehen, wie Haida in seiner Freizeit auf der Veranda saß und in Texten von Georges Bataille blätterte.
    Er sei Jazzpianist, erzählte Midorigawa ihm. Wegen persönlicher Probleme und auch, weil er erschöpft von seiner Arbeit sei, habe er sich hierher in die Berge zurückgezogen, um eine Weile auszuspannen. Er sei ohne jede Planung aufgebrochen und zufällig hier gelandet. Es gefalle ihm hier, weil es keinerlei überflüssige Dinge gebe.
    »Du bist wohl auch aus Tokio?«, fragte er den im heißen Wasser sitzenden Haida.
    Dieser erzählte ihm mit wenigen Worten, was ihn hierher verschlagen hatte. Dass er sich von der Uni habe beurlauben lassen und ohne ein besonderes Ziel umherreise. Und dass es keinen Sinn gehabt hätte, in Tokio zu bleiben, weil die Uni ohnehin bestreikt werde.
    Ob er denn keine Lust habe, einmal nach Tokio zu fahren, um zu sehen, was los sei, wollte Midorigawa wissen. Täglich flammten neue Unruhen auf und breiteten sich aus. Als werde die Welt auf den Kopf gestellt. Ob er es nicht bereue, diese Ereignisse zu verpassen?
    So einfach lasse die Welt sich nicht auf den Kopf stellen, antwortete Haida. Kopfstehen würden nur die Menschen. Und das zu verpassen, bereue er nicht im Geringsten. Seine schroffe Art schien Midorigawa zu gefallen.
    Er erkundigte sich bei dem jungen Mann, ob es vielleicht irgendwo in der Umgebung ein Klavier gäbe, auf dem er spielen könne.
    Jenseits eines Berges befand sich eine Mittelschule. Vielleicht würde man ihm nach dem Unterricht das Klavier im Musiksaal zur Verfügung stellen, sagte Haida. Midorigawa war erfreut, dies zu hören, und bat den jungen Mann, ihn später dorthin zu führen. Haida sprach mit der Wirtin, die in der Schule anrief und erwirkte, dass Midorigawa das Klavier benutzen durfte. Nach dem Mittagessen machten die beiden sich auf den Weg über den Berg zur Schule. Es hatte geregnet, und der Pfad war glitschig, aber Midorigawa schritt, seine Tasche fest über der Schulter, zügig voran. Äußerlich wirkte er wie ein Städter, aber er hatte erstaunlich kräftige Beine.
    Die Tasten des alten Klaviers im Musiksaal waren verzogen, und gestimmt worden war es wohl auch schon länger nicht, aber im Großen und Ganzen ließ sich ganz passabel darauf spielen. Der Pianist ließ sich auf dem quietschenden Schemel nieder und spielte, nachdem er seine Finger gestreckt und über die achtundachtzig Tasten hatte gleiten lassen, probeweise ein paar Akkorde. Quinte, Septime, None, Undezime. Er schien nicht besonders überzeugt von dem Klang, aber allein die Berührung der Tasten schien ihm eine gewisse physische Befriedigung zu verschaffen. Wegen der raschen und kraftvollen

Weitere Kostenlose Bücher