Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
kann ich sie sowieso nicht hören«, sagte Haida, während er sie wieder in die Hülle schob.
Tsukuru hatte das Album mit den drei Vinyl-Platten noch immer. Es stand neben Barry Manilow und den Pet Shop Boys.
Haida war ein guter Koch. Dafür, dass Tsukuru ihn bei sich Musik hören ließ, kaufte er öfter etwas zu essen ein und kochte für sie beide. Tsukuru hatte Küchengerät und Geschirr wie auch die meisten Möbel und das Telefon einfach von seiner Schwester übernommen. Mitunter riefen sogar noch frühere Freunde von ihr an. (»Tut mir leid, aber meine Schwester wohnt nicht mehr hier«, sagte er dann.) Zwei bis drei Mal in der Woche aßen Haida und er zusammen zu Abend, hörten Musik und unterhielten sich. Meist waren es einfache, alltägliche Gerichte, die Haida zubereitete, aber an Feiertagen nahm er sich manchmal etwas Aufwendigeres vor. Immer schmeckte es köstlich. Haida war offenbar ein Naturtalent. Ob einfaches Omelett, Misosuppe, Sahnesoße oder Paella – alles gelang ihm vorzüglich.
»Eigentlich schade, dass du Physiker bist. Du solltest ein Restaurant eröffnen«, sagte Tsukuru halb im Scherz.
Haida lachte. »Das wäre auch nicht schlecht. Aber ich bin nicht gern an einen Ort gebunden. Ich will gehen, wohin es mir gefällt und wann es mir gefällt. Leben, wie ich will, und denken, was ich will.«
»Aber das ist gar nicht so einfach.«
»Nein, ist es nicht. Aber ich will frei sein. Ich koche zwar ganz gern, aber berufsmäßig in einer Küche eingesperrt sein? Nein! Wenn ich mich darauf einließe, würde ich bald jemanden hassen.«
»Wen denn?«
»›Der Koch hasst den Kellner, und beide hassen die Gäste‹«, sagte Haida. »Das kommt in dem Theaterstück Die Küche von Arnold Wesker vor. Menschen, denen man die Freiheit nimmt, hassen immer jemanden dafür. Meinst du nicht? So möchte ich nicht leben.«
»Du wünschst dir also, immer ungebunden zu sein und eigenständig denken zu können, ja?«
»Genau.«
»Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, eigenständig zu denken.«
»Freies Denken heißt im Grunde, sich auch von seinem Körper zu trennen. Sein Gefängnis zu verlassen, die Ketten zu sprengen und sich in die reinen Höhen der Logik emporzuschwingen. Man lässt der Logik ihren natürlichen Lauf. Das macht im Kern die Freiheit des Denkens aus.«
»Klingt schwierig.«
Haida schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht. Die meisten Menschen verhalten sich unbewusst so und bewahren sich auf diese Weise ihre geistige Gesundheit. Sie merken es nur nicht.«
Tsukuru dachte einen Moment lang über das nach, was Haida gesagt hatte. Er mochte diese abstrakten, spekulativen Gespräche. Eigentlich war er kein gewandter Redner, aber die Diskussionen mit seinem Freund regten ihn so an, dass ihm die Worte ungewöhnlich leicht über die Lippen kamen. Das passierte ihm zum ersten Mal. Auch in der Gruppe der fünf Freunde in Nagoya war er meist Zuhörer gewesen.
»Aber das, was du die ›Freiheit des Denkens‹ nennst, kann man nicht erreichen, wenn man willentlich danach strebt?«, fragte Tsukuru.
Haida nickte. »Nein. Das ist ebenso schwierig, wie mit Absicht zu träumen. Normale Menschen können das nicht.«
»Aber dennoch versuchst du es.«
»Könnte sein«, sagte Haida.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Technik an der Hochschule unterrichtet wird.«
Haida lachte. »Das habe ich auch nie geglaubt. Was ich an der Universität suche, ist einfach genügend Freiraum und Zeit. Etwas anderes will ich gar nicht. Um eine akademische Diskussion über das Denken zu führen, brauche ich Definitionen der Begriffe. Das ist mühsam. Originalität ist nichts weiter als intelligente Nachahmung. Sagt Voltaire, der Realist.«
»Denkst du auch so?«
»Alles hat seine Grenzen. Auch das Denken. Man sollte diese Grenzen respektieren, aber sich auch nicht fürchten, sie zu durchbrechen. Das ist das Wichtigste, um frei zu werden. Respekt und Abneigung gegenüber den Grenzen. Die wichtigsten Dinge im Leben haben immer zwei Seiten. Soweit ich es sagen kann.«
»Ich würde dir gern eine Frage stellen«, sagte Tsukuru.
»Welche denn?«
»In einigen Religionen erhalten die Propheten ihre Botschaften vom Absoluten doch in Trance.«
»Genau.«
»Wenn das geschieht, geschieht es jenseits ihres freien Willens, oder? Sie sind dabei völlig passiv.«
»Genau.«
»Und die Botschaft geht über die Grenzen des einzelnen Propheten hinaus und wirkt universell.«
»Genau.«
»Das ist weder widersprüchlich noch
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