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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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er immer einige CD s zu Tsukuru mit, die sie sich gemeinsam anhörten. Die meisten hatte Haida aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen. Manchmal schleppte er auch eigene alte Langspielplatten an. In Tsukurus Wohnung stand eine ganz passable Stereoanlage, aber da seine Schwester ihm nur Platten von Barry Manilow und den Pet Shop Boys hinterlassen hatte, benutzte er den Plattenspieler kaum.
    Haida mochte hauptsächlich Instrumental- und Kammermusik, aber auch Gesang. Der voluminöse Sound großer Orchester war nicht nach seinem Geschmack. Tsukuru interessierte sich nicht besonders für klassische Musik (oder Musik im Allgemeinen), aber sie mit Haida anzuhören machte ihm Spaß.
    Bei einem bestimmten Klavierstück fiel Tsukuru auf, dass er es von früher kannte. Er wusste nicht, wie es hieß, und auch nicht, wer es komponiert hatte. Die Melodie war von einer stillen Sehnsucht erfüllt. Ein einprägsames ruhiges Thema, das eingangs monoton gespielt wurde. Dann eine leichte Variation. Tsukuru hob den Blick von dem Buch, das er gerade las, und fragte Haida nach dem Titel.
    »Das ist ›Le mal du pays‹ von Franz Liszt. Aus dem ersten Jahr der Années de pèlerinage , Liszts ›Pilgerjahren‹, die in der Schweiz beginnen.«
    »›Le mal …‹?«
    »›Le mal du pays‹, das ist Französisch. Allgemein heißt das so etwas wie Heimweh oder Sehnsucht, aber genau genommen ist es ›die grundlose Traurigkeit, die eine ländliche Idylle im Herzen des Menschen weckt‹. Der Ausdruck ist schwer zu übersetzen.«
    »Ein Mädchen, das ich kenne, hat dieses Stück oft gespielt. Eine Klassenkameradin aus der Oberschule.«
    »Mir hat es immer gefallen, aber es ist nicht sonderlich bekannt«, sagte Haida. »Spielt deine Freundin gut Klavier?«
    »Kann ich nicht beurteilen, ich kenne mich mit Musik nicht aus. Aber ich fand es immer sehr schön. Wie soll ich es beschreiben? Erfüllt von einer sanften Traurigkeit, aber nicht sentimental.«
    »Dann hat sie es sicher sehr gut gespielt«, sagte Haida. »Es wirkt technisch einfach, ist aber ziemlich schwierig im Ausdruck. Wenn man die Melodie einfach so nach Noten runterspielt, hört sie sich langweilig und nach nichts an. Spielt man sie mit zu viel Hingabe, klingt sie billig. Ein falscher Tritt aufs Pedal kann den Charakter des Stückes völlig verändern.«
    »Wer ist der Pianist?«
    »Lasar Berman, ein Russe. Er spielt, als würde er eine imaginäre Landschaft beschreiben. Liszts Klavierstücke gelten mitunter als manieriert und oberflächlich. Natürlich gibt es auch prätentiöse Werke, aber wenn man das Ganze aufmerksam anhört, begreift man Liszts einzigartige Tiefe, die allerdings häufig geschickt hinter den Schnörkeln verborgen ist. Das trifft besonders auf die Années de pèlerinage , die ›Pilgerjahre‹, zu. Meiner Meinung nach ist Berman der beste neuere Interpret und Claudio Arrau der beste von den älteren.«
    Sobald Haida über Musik sprach, wurde er beredt. Er fuhr fort, Bermans Vorzüge zu rühmen, aber Tsukuru hörte kaum zu. In ihm war ein erstaunlich deutliches und plastisches Bild von Shiro am Klavier aufgetaucht. Als wären einige dieser schönen Momente gegen den Strom der Zeit einen Flusslauf hinaufgeschwappt.
    Sie saß an dem Yamaha-Flügel in ihrem Wohnzimmer. In dem stets akkurat gestimmten Instrument spiegelte sich Shiros perfektionistischer Charakter. Auf seiner glänzenden Oberfläche war nicht ein Fleck oder Fingerabdruck. Nachmittägliches Licht fiel durchs Fenster. Die Schatten der Zypressen im Garten. Im Wind wehende Spitzenvorhänge. Teeschalen auf dem Tisch. Shiros ordentlich im Nacken zusammengebundenes schwarzes Haar, ihr ernster, auf die Noten gerichteter Blick. Ihre schönen langen Finger auf den Tasten. In ihren sicher auf den Pedalen ruhenden Füßen war eine Kraft, die man Shiro kaum zugetraut hätte. Ihre Waden schimmerten weiß und glatt wie Porzellan. Wenn er sie bat, etwas zu spielen, war es häufig dieses Stück – »Le mal du pays«. Die grundlose Traurigkeit, die eine ländliche Idylle im menschlichen Herzen weckt. Heimweh oder Melancholie.
    Während er mit geschlossenen Augen der Musik lauschte, verspürte er eine gewisse Beklommenheit. Als hätte er unbemerkt eine feste kleine Wolke eingeatmet. Auch als das Stück zu Ende war und ein neues begann, blieb Tsukuru schweigend in das Bild in seinem Inneren versunken. Haida warf hin und wieder einen Blick in seine Richtung.
    »Wenn du willst, lasse ich dir die Platte hier. Im Wohnheim

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