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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Beherrschung seiner Finger vermutete Haida einen namhaften Pianisten in ihm.
    Nachdem Midorigawa die Klaviatur ausprobiert hatte, nahm er einen kleinen Stoffbeutel aus seiner Schultertasche und legte ihn behutsam auf das Instrument. Der Beutel, der aus einem teuren Stoff zu sein schien, war mit einer Schnur zugebunden. Haida hielt es für möglich, dass er die Asche eines Menschen enthielt. Es machte den Eindruck, als lege Midorigawa den Beutel gewohnheitsmäßig aufs Klavier, wenn er spielte.
    Zögernd begann er, »Round Midnight« zu spielen. Am Anfang führte er die einzelnen Akkorde gründlich und sorgfältig aus, wie jemand, der gerade in einen reißenden Bach gestiegen ist und Halt in der Strömung sucht. Als er das Thema beendet hatte, folgte eine längere Improvisation. Mit der Zeit bewegten sich seine Finger immer flinker und schwereloser, wie Fische im Wasser. Die linke Hand inspirierte die rechte, und die rechte stimulierte die linke. Der junge Haida war kein großer Jazz-Kenner, aber dieses Stück von Thelonious Monk kannte er zufällig, und er spürte, dass Haidas Interpretation außergewöhnlich, ja, einmalig war. Es lag darin eine solche geistige Tiefe, dass die Unzulänglichkeiten des Klaviers überhaupt nicht störten. Als einziger Zuhörer im Musikraum der kleinen Bergschule hatte Haida das Gefühl, von dieser Musik innerlich gereinigt zu werden. Ihre ungezwungene Schönheit erschien ihm wie das harmonische Zusammenwirken zwischen frischer, ozonerfüllter Luft und einem klaren, kühlen Bergbach. Midorigawa war so auf sein Spiel konzentriert, dass die Welt um ihn herum versunken war. Der junge Haida hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so vertieft war. Er konnte den Blick nicht von Midorigawas Fingern abwenden, die wie eigenständige Wesen über die Tasten glitten.
    Er spielte noch etwa fünfzehn Minuten weiter und nahm dann ein dickes Handtuch aus seiner Tasche, um sich ausgiebig den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Eine Zeit lang schloss er die Augen, als würde er meditieren.
    »Genug«, sagte er dann. »Das reicht. Lass uns gehen.« Er griff nach dem kleinen Beutel auf dem Klavier und packte ihn sorgfältig wieder in die Tasche.
    »Was ist das für ein Beutel?«, fragte Haidas Vater kühn.
    »Ein Talisman«, antwortete Midorigawa einfach.
    »So eine Art Schutzgott der Klaviere?«
    »Nein, eher mein anderes Ich.« Ein müdes Lächeln erschien auf Midorigawas Gesicht. »Es ist eine interessante Geschichte, aber sie ist lang, und ich bin zu müde, um sie zu erzählen.«
    An diesem Punkt unterbrach Haida seine Erzählung, warf einen Blick auf die Wanduhr und sah dann Tsukuru an. Natürlich war es Haidas Sohn, der Tsukuru anschaute. Aber wegen des übereinstimmenden Alters schob sich in seiner Vorstellung die Gestalt des jungen Vaters aus der Geschichte wie von selbst über die des Sohnes. Es fühlte sich seltsam an, wie die beiden verschiedenen Zeitebenen einander überlappten. Plötzlich hatte er die Fantasie, dass vielleicht in Wirklichkeit gar nicht der Vater, sondern der Sohn, der hier vor ihm saß, die Geschichte erlebt hatte. Vielleicht erzählte er sie nur als die seines Vaters.
    »Es ist spät geworden. Wenn du müde bist, kann ich ein anderes Mal weitererzählen.«
    »Nein, gar nicht«, sagte Tsukuru. Tatsächlich war jede Müdigkeit von ihm gewichen. Er wollte unbedingt hören, wie es weiterging.
    »Also gut, ich bin auch noch nicht müde«, sagte Haida.
    Es war das erste und letzte Mal, dass Midorigawa in Haidas Gegenwart Klavier spielte. Nach den fünfzehn Minuten »Round Midnight« im Musiksaal der kleinen Schule schien sein Interesse erloschen. Wann immer der junge Mann ihn fragte, ob er nicht wieder einmal spielen wolle, schüttelte er nur stumm den Kopf. Irgendwann gab Haida es auf. Offenbar hatte Midorigawa nicht mehr die Absicht zu spielen. Dabei hätte er ihn sehr gern noch einmal gehört. Midorigawa hatte echtes Talent. Daran gab es keinen Zweifel. Sein Spiel hatte die Macht, den Zuhörer physisch in seinen Bann zu schlagen. Wer ihm konzentriert lauschte, der hatte das untrügliche Gefühl, in eine andere Welt versetzt zu werden. Eine solche Wirkung zu erzeugen ist nicht leicht.
    Welche Bedeutung diese außergewöhnliche Fähigkeit für Midorigawa selbst hatte, konnte Haida nicht nachvollziehen. War sie ein Glück für ihn oder eine Bürde? Ein Segen oder ein Fluch? Oder war es von allem ein bisschen? Einen sehr glücklichen Eindruck machte Midorigawa jedenfalls nicht. Sein

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