Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
offenbar schon länger vor seiner Geburt beschlossen hatte, dass sein erster Sohn Tsukuru heißen sollte. Tsukuru wusste nicht, warum. Vielleicht weil sein Vater über lange Jahre ein Leben fernab jeder Tätigkeit geführt hatte, die etwas mit der Herstellung von Dingen zu tun hatte. Oder er hatte irgendwann eine Eingebung empfangen, und bei einem lautlosen Gewitter hatte ein unsichtbarer Blitz das Wort »Tsukuru« unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt. Aber sein Vater hatte nie über den Ursprung des Namens gesprochen. Weder mit Tsukuru noch mit sonst jemandem.
Anscheinend hatte sein Vater lange überlegt, welches der infrage kommenden Zeichen er dem Namen zuordnen sollte – das allgemeinere, einfachere für »machen« oder das etwas hochtrabendere für »erschaffen«. Auch wenn beide Zeichen die gleiche Aussprache und Grundbedeutung hatten, so strahlten sie doch etwas sehr Verschiedenes aus. Die Mutter favorisierte das vornehmere »erschaffen«, doch der Vater entschied, nachdem er mehrere Tage gründlich überlegt hatte, zugunsten des bodenständigeren Zeichens, das »etwas machen« oder »bauen« implizierte.
Nach der Bestattung des Vaters erzählte die Mutter ihm von der damaligen Kontroverse. »Dein Vater fragte sich, ob er dir mit dem komplizierteren Zeichen die Last des Lebens nicht noch schwerer machen würde. Er fand, mit dem einfacheren Zeichen würdest du vielleicht ein sorgloseres Leben führen. Er hat sich wirklich ernsthafte Gedanken gemacht. Du warst ja auch sein erster Sohn.«
Tsukuru konnte sich nicht erinnern, seinem Vater jemals besonders nahe gewesen zu sein, aber er musste ihm beipflichten. Zweifellos war das von ihm gewählte Zeichen das geeignetere. Denn ein schöpferisches Talent, das das Zeichen für »erschaffen« gerechtfertigt hätte, konnte er an sich nicht entdecken. Allerdings sah er sich auch nicht imstande zu beurteilen, ob das einfachere Zeichen ihm »die Last des Lebens« erleichtert hatte. Vielleicht war die Form der Last, die er zu tragen hatte, ein wenig anders ausgefallen. Aber wie stand es mit dem Gewicht?
Jedenfalls war so aus ihm ein Individuum mit Namen Tsukuru Tazaki geworden. Davor hatte es ihn nicht gegeben, er war ein Nichts, nicht mehr als ein namenloses, urtümliches Chaos gewesen. Ein wimmernder rosa Fleischklumpen in der Dunkelheit, der kaum drei Kilogramm wog und mühsam atmete. Bis er einen Namen bekam. Sein Bewusstsein und sein Gedächtnis entwickelten sich, sein Ich bildete sich. Aber am Anfang von allem stand der Name.
Sein Vater hieß Toshio – »der Begünstigte«. Ein Name, der durchaus zu ihm passte. Toshio Tazaki war ein Mann, der in vielen Dingen begünstigt war. Er hatte sich ohne Geld ins Immobiliengeschäft gestürzt und war im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs in Japan zu enormem Erfolg gelangt. Er leistete Erstaunliches, bis er mit vierundsechzig Jahren qualvoll an Lungenkrebs starb. Aber das lag noch in weiter Ferne. Als Tsukuru und Haida sich kennenlernten, war sein Vater noch gesund und voller Energie, rauchte fünfzig Zigaretten am Tag und trieb einen aggressiven Handel mit Luxus-Immobilien in der Tokioter Innenstadt. Die Immobilienblase war bereits geplatzt, aber weil Toshio Risiken einkalkuliert und seine Gewinne auf verschiedene sichere Unternehmen verteilt hatte, hatte er keine besonderen Verluste zu verzeichnen. Auch der unheilvolle Schatten auf seiner Lunge war noch nicht entdeckt worden.
»Mein Vater ist Philosophieprofessor an einer staatlichen Uni in Akita«, erzählte Haida. »Er ist wie ich und entwickelt gern abstrakte Thesen im Kopf. Er hört unentwegt klassische Musik und verschlingt Bücher, die sonst keiner liest. Er kann nicht mit Geld umgehen und verpulvert das meiste von seinem Gehalt für Bücher und Schallplatten. Er denkt nicht mal daran, für die Familie zu sparen, und ist mit seinem Kopf ständig woanders. Ich kann nur hier studieren, weil die Hochschule nicht teuer ist und das Studentenwohnheim kaum etwas kostet.«
»Sind die Studiengebühren für Physik günstiger als für Philosophie?«, fragte Tsukuru.
»Kein Unterschied, glaube ich. Wenn einer den Nobelpreis bekommt, ist es natürlich etwas anderes«, sagte Haida und setzte sein gewohntes Lächeln auf.
Haida war ohne Geschwister aufgewachsen und hatte schon als Kind kaum Freunde gehabt. Er liebte seinen Hund und klassische Musik. Weil er im Studentenwohnheim keine Musik spielen konnte (und selbstverständlich auch keinen Hund halten durfte), brachte
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