Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
komme.
In Nagoya ging er kaum auf die Straße, höchstens einmal abends mit dem Hund in den benachbarten Park, weil er fürchtete, zufällig einem seiner vier ehemaligen Freunde auf der Straße zu begegnen. Nachdem er jetzt auch noch diese erotischen Träume von Kuro und Shiro hatte, fehlte ihm jeder Mut, ihnen persönlich gegenüberzutreten. Obwohl ihm klar war, dass das, was er da träumte, in keiner Verbindung zu seinen Absichten stand und auch niemand wissen konnte, was er träumte, kam dieser Traum für ihn fast einer Vergewaltigung gleich. Und vielleicht würden sie doch mit einem Blick durchschauen, was in seinen Träumen vor sich ging, und ihn wegen seiner schmutzigen, egoistischen Fantasien mit heftigen Vorwürfen überschütten.
Er vermied es zu masturbieren, so gut er konnte. Nicht weil er wegen des Vorgangs an sich Schuldgefühle gehabt hätte, sondern weil er sich dabei unweigerlich Kuro und Shiro vorstellte. Obwohl er sich bemühte, an etwas anderes zu denken, schlich sich der Gedanke an die beiden immer wieder ein. Aber wenn er nicht onanierte, hatte er erotische Träume, in denen unweigerlich Shiro und Kuro auftraten. Am Ende lief es auf das Gleiche hinaus. Zumindest hatte er über seine Träume keine bewusste Kontrolle. Natürlich war das nicht mehr als eine lahme Rechtfertigung, aber sie tröstete ihn ein wenig.
Der Inhalt dieser Träume war immer der gleiche. Schauplatz und Ablauf wichen in Einzelheiten voneinander ab, aber grundsätzlich änderte der Traum sich nicht: Die beiden Mädchen schmiegten sich nackt an ihn, liebkosten ihn mit ihren Fingern und Zungen, sein Glied wurde steif, und er schlief mit ihnen. Zum Schluss war es immer Shiro, bei der er ejakulierte. Auch wenn er heftig mit Kuro verkehrte, wechselte in der letzten Phase unversehens die Partnerin und entließ seinen Samen in Shiros Körper. Dieser spezielle Traum verfolgte ihn nun schon, seit er im Sommer seines zweiten Studienjahres aus der Gruppe ausgestoßen worden war und keine Gelegenheit mehr hatte, die beiden Mädchen zu sehen. Seit seinem Entschluss, nicht mehr an die vier zu denken, sondern sie zu vergessen. Er konnte sich nicht erinnern, früher jemals etwas Ähnliches geträumt zu haben. Warum dies jetzt geschah, wusste er natürlich nicht. Auch das war eines der Probleme, die er in die Schublade der »ungelösten Fälle« im Kabinett seines Bewusstseins verbannt hatte.
Mit einem unbestimmten Gefühl von Beklommenheit kehrte Tsukuru nach Tokio zurück. Doch noch immer gab es keine Nachricht von Haida. Er tauchte weder in der Schwimmhalle noch in der Bibliothek auf. Tsukuru rief mehrmals in seinem Wohnheim an, aber immer hieß es nur, Haida sei nicht da. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er weder Haidas Adresse noch seine Telefonnummer bei seiner Familie in Akita kannte. So gingen die Frühjahrsferien zu Ende, und das neue Semester begann. Es war Tsukurus viertes Jahr an der Universität. Die Kirschblüte kam und ging. Aber sein Freund meldete sich nicht.
Eines Tages machte er sich auf den Weg zu Haidas Studentenwohnheim. Der Hausmeister teilte ihm mit, Haida sei am Ende des letzten Semesters ausgezogen und habe alle seine Sachen mitgenommen. Tsukuru war sprachlos. Der Hausmeister kannte den Grund für Haidas Auszug nicht. Seine neue Adresse wusste er auch nicht. Oder behauptete es zumindest.
Als er sich im Sekretariat erkundigte, erfuhr er, dass Haida sich »aus persönlichen Gründen« vorläufig von der Universität hatte beurlauben lassen. Welche Gründe das waren, dürfe man ihm nicht sagen. Haida hatte unmittelbar nach den Klausuren zu Semesterende die Dokumente für seine Beurlaubung und die Kündigung seines Zimmers im Studentenwohnheim eingereicht. Zu dem Zeitpunkt hatten er und Tsukuru sich noch täglich gesehen. Sie waren zusammen geschwommen, er hatte am Wochenende bei Tsukuru übernachtet, und sie hatten bis spätabends diskutiert. Dennoch hatte Haida seine Beurlaubung von der Uni mit keinem Wort erwähnt. Hatte lächelnd, als wäre nichts, zu ihm gesagt, er fahre nur für zwei Wochen nach Akita. Und war verschwunden.
Wahrscheinlich würde er Haida nie wiedersehen. Er muss fest entschlossen gewesen sein zu verschwinden, ohne mir etwas zu sagen, dachte Tsukuru. Das ist ihm nicht einfach nur so passiert. Er muss einen eindeutigen Grund dafür gehabt haben. Und was auch immer dieser Grund war, Haida würde nicht mehr zurückkehren. Tsukuru sollte mit seiner Ahnung recht behalten. Zumindest solange er noch
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