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Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Titel: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erwehren, als Aka Shiros Leben in so wenigen Zeilen zusammenfasste. Aber das war vielleicht ein zeitliches Problem. Tsukuru hatte erst kürzlich von Shiros Tod erfahren, und Aka wusste seit sechs Jahren davon.
    »Inzwischen hat das vielleicht keine Bedeutung mehr, aber ich möchte dieses Missverständnis klären«, sagte Tsukuru. »Ich weiß nicht, was Shiro gesagt hat, aber ich habe sie nicht vergewaltigt. Ich hatte keine solche Beziehung zu ihr, in keiner Form.«
    »Ich denke, die Wahrheit ist wie eine im Sand versunkene Stadt. Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer wird sie vom Sand begraben. Irgendwann wird der Sand im Laufe der Zeit wieder davongeweht, und ihre Umrisse kommen zum Vorschein. Ganz gleich, aus welcher Warte man die Sache betrachtet, sie ist vorbei. Wir brauchen auch kein Missverständnis zu klären. Du bist sowieso kein Mensch, der so etwas tun würde. Das weiß ich sehr wohl.«
    »Das weißt du?«, wiederholte Tsukuru.
    »Soll heißen, dass ich es jetzt weiß.«
    »Weil der Sand, der sich angesammelt hatte, fortgeweht wurde?«
    Aka nickte. »So ist es.«
    »Es ist, als würden wir über ein historisches Ereignis sprechen.«
    »In gewisser Weise tun wir das ja auch.«
    Tsukuru sah seinem alten Freund eine Weile ins Gesicht. Aber er konnte nicht darin lesen.
    »Auch wenn wir unsere Erinnerungen verdrängen können, die Geschichte können wir nicht mehr ändern.« Tsukuru fielen Saras Worte ein, und er wiederholte sie.
    Aka nickte mehrmals. »Genauso ist es. Auch wenn wir unsere Erinnerungen verdrängen, die Vergangenheit ist nicht mehr zu ändern. Genau das wollte ich sagen.«
    »Und dennoch habt ihr mich damals ausgestoßen. Gnadenlos und ohne zu zögern«, sagte Tsukuru.
    »Stimmt. Das ist eine historische Tatsache. Nicht dass ich etwas rechtfertigen will, aber damals ging es nicht anders. Shiros Schilderung war so lebensecht. Und sie hatte wirklich Verletzungen. Das war echter Schmerz, und echtes Blut ist geflossen. Ihre Verfassung ließ nicht den leisesten Zweifel daran zu. Aber je mehr Zeit verging, nachdem wir uns von dir losgesagt hatten, desto unsicherer wurden wir.«
    »In welcher Hinsicht?«
    Aka verschränkte die Hände im Schoß und überlegte etwa fünf Sekunden lang.
    »Anfangs waren es winzige Details. Ein paar Unstimmigkeiten. Dinge, bei denen man stutzig wird. Zunächst achteten wir nicht darauf. Weil sie eigentlich keine Rolle spielten. Aber es wurden von Tag zu Tag mehr, und bald fiel uns immer öfter etwas auf. Und uns wurde klar, dass irgendetwas nicht stimmte.«
    Tsukuru wartete schweigend darauf, dass er fortfuhr.
    »Shiro war wahrscheinlich psychisch erkrankt.« Aka nahm sein goldenes Feuerzeug vom Schreibtisch und spielte damit, während er seine Worte sorgsam wählte. »Ich weiß nicht, ob es eine vorübergehende Sache war oder Veranlagung. Aber zumindest war sie damals ziemlich neben der Spur. Shiro war in musikalischer Hinsicht wirklich außergewöhnlich begabt. Sie besaß die Fähigkeit, schöne Musik genau richtig zu spielen. Aus unserer Sicht war allein das schon großartig. Aber leider genügte ihr Talent nicht den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellte. Für einen kleineren Kreis reichte es, aber sie hatte nicht die Kraft, in die große Welt hinauszugehen. Sie kam nicht über ein bestimmtes Niveau hinaus, auch wenn sie noch so fleißig übte. Du weißt ja, wie ernst und introvertiert Shiro war. Als sie dann auf die Musikhochschule ging, nahm der Druck auf sie ständig zu. Und sie geriet immer mehr auf Abwege.«
    Tsukuru nickte, sagte aber nichts.
    »Auch eine alte Geschichte«, sagte Aka. »Traurig, aber unter Künstlern passiert das immer wieder. Talent ist so etwas wie ein Gefäß. Auch noch so viel Ausdauer und Mühe können es nicht vergrößern. Mehr als eine bestimmte Menge Wasser geht einfach nicht hinein.«
    »So etwas ist sicher nicht selten«, sagte Tsukuru. »Aber woher kam die Geschichte, dass ich ihr in Tokio Drogen eingeflößt und sie vergewaltigt hätte? Sie ist einfach zu drastisch, ganz gleich unter welchem psychischen Druck Shiro stand.«
    Aka nickte. »Stimmt, sehr drastisch. Aber gerade deshalb blieb uns damals nichts anderes übrig, als ihre Geschichte zu glauben. Wir hielten es für unmöglich, dass Shiro sich so etwas ausdenken könnte.«
    Vor Tsukuru tauchte eine alte, im Sand begrabene Stadt auf. Er stellte sich vor, wie er sich auf eine Düne setzte und auf die ausgedörrten Ruinen hinunterblickte.
    »Aber warum hat sie sich ausgerechnet

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